Yvonne Veselsky: Wie die Sonnenuhr

4. Platz Putlitzer Preis® 2019

„Wie spät ist es?“, frage ich den alten Mann, der mir eine Münze in mein Cappy wirft. „Schlag fünf!“, erwidert er. Seit dem frühen Morgen sitze ich in der prallen Sonne, und meine Kehle ist staubtrocken. Ich zähle meine Tagesbeute, schmeiße die Kippe vor mir auf den Boden und stehe auf. Zwei Flaschen Berliner Kindl müssten allemal drin sein. Und hinten beim Döner-Laden fragt niemand nach meinem Alter.
Langsam schlendere ich vom Hermannplatz in Richtung Sonnenallee, die ihrem Namen heute alle Ehre macht. Die Luft steht in der Straße. Mir läuft das Wasser nur so den Rücken hinunter, und mein klitschnasses Shirt klebt an meiner schrundigen Haut. Für heute Abend haben sie ein schweres Unwetter angekündigt. Mit halb zugekniffenen Augen schaue ich hoch zum Himmel, wo tatsächlich die ersten grauen Wölkchen aufziehen. Es soll einen Wetterumschwung geben, heißt es. Die aufgestaute Hitze werde sich in einem kräftigen Gewitter mit starken Sturmböen und Hagelschauern entladen. Es soll gewaltig was runterkommen.
Ich biege um die letzte Ecke und verlangsame meinen Schritt. Vom Ende der Straße aus blickt mich das alte Schulgebäude an, um das ich am liebsten einen weiten Bogen machen würde. Aber auf dem Hof höre ich die Jungs. Sie spielen noch Fußball. Schon kann ich ihn sehen, sein heller Blondschopf leuchtet heraus. Ganz klar, er ist der einzige, der bei dieser Hitze eine lange Hose trägt. Und natürlich auch einen langärmeligen Pulli. Kevin ist am Ball, er kämpft sich vor. „Ej Keule!“, rufe ich ihm zu. Als er mich entdeckt, strahlt er übers ganze Gesicht und stürmt mir entgegen: „Give me five!“ Lachend schlägt er mit seiner kleinen Faust gegen meine Handfläche.
Ich bücke mich zu ihm hinab. „Du hast zu viel Sonne abbekommen, Großer!“, sage ich und drücke ihm mein Cappy in die überhitze Stirn. „Ab geht’s.“ Kevins Gesicht verfinstert sich umgehend. Bevor er wieder davonstürmen kann, greife ich seine kleine Hand und ziehe daran. Er bockt etwas und macht sich extra schwer, aber ich lasse nicht locker. „Los komm, es wird Zeit, du weißt ja, was sonst passiert.“ Wortlos laufen wir eine Weile nebeneinander her, Schritt für Schritt unseren lang hingeworfenen Schatten folgend.
„Wieviele?“, frage ich in die Stille hinein. Eine kurze Sekunde lang schaut Kevin mich ratlos an, dann blitzen seine Augen auf. Sofort kommt sein sonniges Gemüt wieder zum Vorschein. Seine Stimmung kann von einer Sekunde auf die andere umschlagen. „Fünf!“, wirft er mir entgegen. „Fünf Stunden?“, frage ich erstaunt. „Alle Wetter! Das ist eine Menge.“ „Also wir hatten heute Sport, das war klasse“, erzählt Kevin mit ungetrübter Freude. „Dann habe ich mit den Jungs Fußball gespielt und sogar ein Tor geschossen. Und jetzt holst du mich ab. Das zählt doppelt“, klärt er mich auf. „Mindestens. Oder sogar dreifach!“
Ein Schmunzeln huscht über mein Gesicht. Kevin schafft es immer wieder, mich kurz aufzuheitern. „Und bei dir?“, will er plötzlich wissen. Ich schweige. Meine Zeitrechnung geht anders. Für mich zählen nur noch diese anderen Momente, die sich düster und schwer auf meine Seele legen und alles Heitere überschatten. Die Minuten schlagen die Stunden, sie machen sich breit und rauben mir den Atem. „Wieviele Stunden waren es heute bei dir?“, fragt Kevin noch ein weiteres Mal, und nach einer Weile antworte ich ihm: „Was zählt, bist ganz allein du.“
Der Himmel ist inzwischen grau bedeckt. Es kommt ein stürmischer Wind auf, der Kevins Haar fliegen lässt. Da braut sich allmählich was zusammen. Als wir am Eingang des Neuköllner Hinterhofhauses ankommen, beginnt es zu regnen. In der Ferne hört man es bereits leise donnern. Die schmutzigen Vorhänge im Erdgeschoss sind zugezogen, wie so oft. Kevin macht eine finstere Miene. „Kannst du nicht doch mitkommen?“, bettelt er. „Bitte!“ „Unmöglich!“, sage ich, „Das weißt du.“ Kevin dreht sich weg und schlägt die Augen nieder, aber ich sehe, wie ihm die Tränen übers Gesicht laufen. Ich gebe mich geschlagen. „Alles klar, dann geh vor und check die Lage.“ Beinahe lautlos schiebt sich der Türschlüssel ins Schloss.
Dichter Zigarettenqualm und eine eisige Stimmung schlagen uns entgegen und jagen mir augenblicklich einen Schauer über den Rücken. „Zum Donnerwetter, wo warst du so lange?“ wettert eine Stimme aus dem Hinterzimmer. Kevin weicht einen Schritt zurück, und ich schiebe mich vor ihn, um ihm Deckung zu geben. Die Glotze läuft, Bild ohne Ton. Mutter sitzt benebelt vor der Mattscheibe und schaut nur einmal kurz auf. Vor ihr stehen zwei fast leere Flaschen Klarer. Früher hat sie noch als Blitzableiter fungiert, wenn wir aufeinanderprallten. Inzwischen ist sie dafür viel zu ausgebrannt. Der Alte wankt herein. Als er mich sieht, bleibt er wie vom Schlag getroffen stehen. „Was denn, du wagst dich noch hier her? Na warte, Bürschchen, dich werd‘ ich was lehren!“. Er zieht den ledernen Nietengürtel aus seiner Jeans und richtet sich baumhoch vor mir auf. Sein Atem bläst mir heiß ins Gesicht, während er mein Shirt hochzerrt und mich niederdrückt.
Draußen prasselt lautstark der Regen, und die Ahornzweige schlagen windgepeitscht gegen die Scheiben. Ich fühle nichts, absolut nichts. Für eine geraume Zeit vermag ich kaum noch klar zu denken, selbst als sich alles langsam wieder zu beruhigen scheint. Dann höre ich Kevin hinter mir weinen, und plötzlich steigt ein tiefer Groll aus meinem Inneren auf. Blitzschnell reiße ich Mutter die Flasche Küstennebel aus der Hand und sehe gerade noch eine brennende Zigarette vor meine Füße rollen, bevor unmittelbar daneben etwas Schwergewichtiges hart auf dem Boden aufschlägt.

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