5. Platz Putlitzer Preis® 2019
Es ist Winter, als Adrian aus dem Zug steigt, es ist ein solcher Winter, dass die Fingerspitzen gefühllos sind und die Nase immerzu feucht.
Jarocin liegt in der Nähe von Kalisch in der Woiwodschaft Großpolen. Das Bahnhofsgebäude in Jarocin sieht aus wie angezündet. Als Adrian aus dem Zug steigt, überrascht es ihn sehr. Die Backsteine sind dunkel, so dunkel, sie sind beinahe schwarz. Sie umrahmen große Fenster, in denen es leer aussieht und vorne spiegelt sich ein kaltes Sonnenlicht.
All das kommt Adrian bekannt vor. Er denkt an Hunde, er denkt: Hunde, die bellen und bellen und spitze Zähne in rosa Zahnfleisch, gespannte Leinen in Fäusten mit Handschuhen und Sabber und Gesichter voll Rotz.
Weil Adrian das denkt, vergisst er zu atmen.
Er weiß nicht, ob er sich alles zusammenreimt, vielleicht aus Filmen oder Büchern gestohlen hat, nun neu zusammensetzt.
Was Adrian weiß: Er war einmal Pole und dann nicht mehr. Er hat einmal in Jarocin gewohnt und dann nicht mehr. Er hat einmal statt Wasser woda gesagt und statt Guten Tag Dzien Dobre, dann nicht mehr.
»Sprich nicht diese Sprache«, lautete der Befehl, es waren scharfe Befehle von Männern in Uniformen und Frauen in Schwesternkluften. Sie sagten: Man sagt Guten Tag! Man sagt Wasser! Dann schlugen sie zu und nannten es »Erziehung«. Sie nannten es: Erziehung zum deutschen Menschen.
Adrian würde sich gern an mehr erinnern, an das Gesicht seiner Mutter oder die Zugfahrt mit den vielen anderen Kindern mit den vielen blonden Haaren und an das Wetter, dass man durchs Fenster sah, während der Zug sich von Jarocin entfernte und Adrian alles hinter sich lassen musste und den Namen seiner Heimatstadt vergaß. Adrian erinnert sich nicht.
Dass er sich erinnern will, hat angefangen mit dem Eintrag. In den Sucharchiven gab es ihn. Als Adrian ihn fand, lautete er wie folgt:
»Adrian Cierniak, eingedeutschter Name: Adrian Dorn – verschleppt Februar 1942, Warthegau, wahrscheinl. Jarocin. Keine Suchmeldung, Eltern vermutl. tot.«
Es war ein Eintrag unter Tausenden, tausende Kinder mit blauen Augen und ohne Vergangenheit. Es war ein Eintrag, wie alle anderen und doch gehörten die zwei Zeilen vollständig und ausschließlich Adrian.
Dann die Recherche, dann die Reise, jetzt das Backsteingebäude und Jarocin, diese Straßen und die fremde Sprache, dieses Züngelnde, Zischelnde, Unverständliche. Adrian ist fremd, er ist so fremd, wie Jarocin kalt ist.
Die Bäume sind vereinzelt und unbelaubt, die Holzbänke darunter sind bezogen mit weißen Filmen aus Eis, ansonsten vollständig leer.
Es war einmal – Adrian war einmal nicht der Fremde. Man hat ihn fremd gemacht. Erzogen zum fremden Menschen.
Für die verlorene Sprache schämt er sich jetzt.
Adrian weiß, er hieß einmal nicht Dorn, er hieß einmal Cierniak, er weiß, er hatte einmal eine Mutter mit demselben Namen, Vorname Danuta. Er weiß, seit zwei Jahren ist sie tot, seit dem 8. August vor zwei Jahren, da war es Sommer, das hat man ihm am Telefon gesagt. Dass sie gestorben ist am Alter und ohne Kinder. Er weiß nicht, was er an diesem Tag gemacht hat. Es war Sommer gewesen und ein Tag wie jeder andere.
Adrian fragt sich, welche Jahreszeit war, als die Deutschen ihn mitgenommen haben und wieso sein Eintrag keine Suchmeldung enthält. Es ist zu spät, jemanden danach zu fragen. Als er nun da ist, wo er hinwollte, ist Adrian ungefähr zwei Jahre zu spät.
Das Tor zittert vor Kälte, es ist aus Eisen und schwer, hinter dem Tor liegen die Grabsteine und zwischen den Grabsteinen die Toten. Für Adrian sind sie alle unbekannt. Soweit er weiß, sind sie alle unbekannt, sogar die eine, sogar Danuta Cierniak, seine Mutter.
Adrian putzt sich die Nase, es ist kalt, die Sonne ist hinter Wolken verschwunden.
Ein Mensch steht da und ist Friedhofswärter, er hat Handschuhe und deutet mit ihnen geradeaus. Adrian folgt dem ausgestreckten Finger.
Ihre letzte Ruhestätte ist ein einfacher Stein, er ist grau und durchdringend schlicht, die Inschrift unaufdringlich ohne Schnörkel, es steht: Danuta Cierniak. Geburt. Tod. Darunter in fremden Wörtern ein Grabspruch, Adrian vermutet: Ein Grabspruch. Adrian weiß nicht, was dort steht.
Auf der sauberen Erde kein Laub, keine toten Blumen, kein verdorrtes Gras. Eine einzige Kerze und vereiste, harte Erde, sie ist umsäumt von Blöcken aus Holz, ein freundliches Holz.
Es ist Abend. Auf dem Friedhof sind keine Laternen und die Kerze brennt. Adrian öffnet die Fäuste und hört auf sie zu ballen. Es ist ein Abschluss. Es ist Winter und ein Ende.
Adrian hieß einmal Cierniak und war Pole. Dann wurde er ausgewählt, dann fuhr er Zug mit vielen Kindern und zwischendrin saßen die Uniformierten, dann war er jemand anders mit neuem Namen und neuem Pass und neuer Sprache und ohne Eltern.
Adrian heißt jetzt Dorn, er hatte zwei Identitäten, die eine starb im Sommer.