Sonja Kettenring: Die weiteren Aussichten

3. Platz Putlitzer Preis® 2019

Schnee, gefallener

Er liegt im Schnee, nackt.
Vielleicht ist er tot, denke ich. Ganz sicher ist er tot, man kann doch nicht nackt im Schnee liegen. Nicht so lange.
Halt dich fern von ihm, sagen sie. Sieh ihm nicht in die Augen, sonst nimmt es ein schlimmes Ende.
Zu spät, denke ich, als er sie öffnet, die Augen. Dunkel, sie sind dunkel, schwärzer noch als verkohltes Holz.
Hallo, sagt er und ich falle in seine Augen hinein.
Vielleicht haben sie recht, denke ich.

Regen, dicht und anhaltend

Man sieht kaum den nächsten Baum, so sehr regnet es. Sieht kaum den Jungen, der da in den See hineingeht. Bei dem Wetter? Er kann doch nicht älter sein als acht oder neun. Und er hat noch all seine Kleider an. Was macht er da nur. Man reibt sich die Augen. Vielleicht ist er gar nicht da. Vielleicht ist man selbst gar nicht da. An diesen Ort geht doch nie einer.

Aber da ist er, der Junge. Seine Hose versinkt im Wasser, erst die Hose, dann das T-Shirt, dann der Junge. Er schwimmt hinaus in den Regen, hinaus auf den See. Was soll das, will man ihm zurufen, was machst du da, komm zurück. Aber der Regen ist zu laut, er würde es nicht hören.
Man sieht sich um, ein Boot, gibt es ein Boot? Aber nein, an diesem Ort gibt es kein Boot. Wer soll damit fahren, es kommt doch nie jemand her.

Der Junge ist hinter dem Regen verschwunden. Er kann doch nicht einfach –
Er kann.

Man holt das Telefon heraus. 112? Die Polizei? Den Bichlbauer von der Feuerwehr?
Regentropfen fallen aufs Telefon, man steckt es wieder ein.
Ach was, sagt man laut in den Regen hinaus. Er wird schon wissen, was er tut.


Hitze, schwül und drückend

Der Franz hat mir die Johannisbeeren gebracht, zwei Eimer voll, Marmelade will ich damit machen. Bei dem Wetter am Herd stehen, das ist nicht gut, es ist zu heiß, viel zu heiß, aber was soll ich machen, jetzt sind sie nun mal reif.
Es kommt ein Gewitter, hat der Franz gesagt.
Warst du schon wieder draußen bei ihm, habe ich gefragt.
Irgendeiner muss doch nach ihm schauen, hat er gesagt und mit den Schultern gezuckt. Da hat er natürlich recht, einer muss nach ihm schauen, wenigstens ab und zu mal, aber müssen es ausgerechnet wir sein.
Von was lebt er da draußen überhaupt, das würde ich gern mal wissen. Früher hat ihm der Brantner Georg ab und zu was gebracht, aber der ist nun auch schon über ein Jahr tot, der Brantner.
Und sonst hat er ja niemanden, also keinen, der kommt und nach ihm sieht, schon lange nicht mehr, eigentlich noch nie und der Junge –
Das will keiner, dass der Junge zurückkommt. Es würde ja auch nichts helfen.

Später sehe ich die Ursel in den Garten hinauslaufen. Eins ihrer Leintücher hängt schon in der Hasel. Sie pflückt es heraus, faltet es, legt es in den Korb und ich sehe ihr zu und auf einmal habe ich so ein komisches Gefühl. Die Ursel wohl auch, denn sie hält inne und sieht die Straße hinunter. Genau wie ich, aber da ist nichts. Niemand.
Noch nicht, denke ich.


Gewitter, losbrechendes

Als der Junge aus dem Zug steigt, empfängt ihn ein Donnerschlag. Die Türen des Zuges schließen sich, die des Himmels gehen auf. Der Junge ist noch nicht vom Bahnsteig herunter, da ist er schon klatschnass.

Das Dorf ist leer, alle sind sie in ihre Häuser geflüchtet.

Der Junge lässt es hinter sich, das Dorf und die Augen, die ihm folgen; er nimmt den Weg über die Wiesen, das Gras hängt wasserschwer in den Weg hinein, auf der Wiese stehen die Kühe vom Bichlbauer und sehen ihm hinterher, kauend, malmend, stoisch, auch sie lässt er hinter sich. Über der Anhöhe ein Blitz, gefolgt von Donner. Der Junge geht ungerührt weiter, erst als der Hof zu sehen ist, die Nussbäume, die sich im Wind biegen, erst dann bleibt er stehen. Wartet.

Auf dem Hof geht die Tür auf.
Der Junge lächelt.


Sturm, orkanartige Böen


Bleib zu Hause, sagt Marianne, als sie im Radio die nächste Unwetterwarnung bringen. Bleib heute Abend zu Hause.
Und geh nicht zu ihm, geh nicht hinaus auf den Hof.
Ja, sage ich, aber dann ist es heute Abend und draußen stürmt und tobt und donnert und blitzt es und ich stehe am Fenster und

gehe hinaus, werde fortgerissen, kaum dass ich die Türklinke hinunter gedrückt habe. Bin sofort nass, klatschnass.

Und ich gehe zum Hof und wir gehen zum See, gehen in den See hinein, ins Wasser, auf den Grund, ins Nichts.

Und der Blitz fährt in die Weide, ein Krachen, ein Leuchten, in der kurzen Helligkeit des Blitzes seine dunklen Augen. So ist das also, denke ich. So ist es, wenn der Blitz einschlägt.


Herbstsonne, mäßiger Wind


Die Bäume hängen voll goldener Blätter, das Wasser am See liegt still und ruhig im Schimmer der untergehenden Sonne.
Über den Nussbäumen fliegt eine Krähe auf, fliegt hinunter zum See, dreht einen Kreis, lässt sich auf der Weide nieder, der ausgebrannten.
Kra, ruft die Krähe, Kra.

Dann ist alles still.

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