Geralf Grems: Ohne F und V

2. Platz Putlitzer Preis® 2019

Schäfer lenkt gegen Windböen an. Den weißen Franzosen hat er sich nicht ausgesucht, er ist im ganzen Land der Dienstwagen seiner Zunft. Dass der Blinker französisch klackt, verunsicherte ihn nur anfangs. Jetzt, beim Einbiegen ins Tal, ist ihm das Geräusch genauso vertraut wie der Weg zu Frau Lämmel. Seine warmen Hände steuern den Wagen nun entspannter durch den Windschatten des Dorfes. Vorbei an den alten Bauernhöfen. Vorbei an der neuen Siedlung. Vorbei an der Schule, deren freistehender Schornstein bei dem Wetter heute Gott sei Dank nicht sein hochgestecktes Ziel ist. Schnee wird es geben, das spürt Schäfer in den Knochen. Die Tachonadel zeigt sein Alter an. Höchstgeschwindigkeit im Ortsverkehr. Jünger wird er erst wieder auf dem Weidenweg am Bach, den er so mag. Deshalb fährt er besonders langsam auf die alte Hütte zu, die Frau Lämmel liebevoll verfallen lässt. Das Dach gebärdet sich abweisend wie ein störrisches Schuppentier, das sich durch das Fehlen einer normgerechten Anlegestelle gegen Leitern sträubt. Im zweiten Gang zoomt Schäfer es heran. Als der Franzose steht, genießt er es, noch etwas in dessen Wärme zu verweilen. Trotz seiner Turnerstatur ist er kein starker Mann, denn er hat neben einer Rot–Grün– und einer F– V– Schwäche, auch eine für Frau Lämmel. Doch vorerst, das wäre eines der Wörter, von denen er nicht wüsste, ob es mit F oder V geschrieben wird, beschränkt er sich darauf, den Kopf des Rückspiegels zu verdrehen, um sein Erscheinungsbild zu überprüfen. Die Gesichtszüge grob gebeilt wie die Balken von Frau Lämmels Haus. Der Blick dagegen, dessen Achsen sich irgendwo hinter der Realität zu treffen scheinen, wirkt dadurch wie aus Schlaf gezimmert. Während sich Schäfer aus der Karosse schwingt, klatschen ihm die ersten Flocken ins Gesicht. So, als ob sie noch nie davon gehört hätten, dass Schnee gerade im Dezember leise zu rieseln hat. Im Küchenfenster kämpft ein Licht gegen den verdunkelten Himmel an. Sie ist da, das ist die Hauptsache. Nach ein paar Schritten berühren Schäfers Hände den Backstein, auf dem im Sommer die Blumenkästen stehen. Von hinten sieht er die frauliche Gestalt am Herd hantieren, ein Gespräch zwischen Schulter und Wange geklemmt. Die roten Maschen der grünen Strickjacke, denkt Schäfer, speichern ihren warmen Duft. Er klopft an die Scheibe. Sie dreht sich um. Dann lächeln sich beide einen Hauch von Unzurechnungsfähigkeit zu. Die rechte Hand löst die Telefonblockade ihrer Schulter, während die linke mit dem Topflappen winkt. Die Strickjacke trägt Frau Lämmel offen. Bedauernd deutet sie auf die Geräte, die nun wieder ihre Aufmerksamkeit beanspruchen. Schäfer zeigt nach oben. Sie nicken sich zu.
So gut standen die Zeichen noch nie, denkt er beim Umhängen seiner Utensilien. Sie war so wunderbar entgegenkommend in ihrer Verhinderung. Das Phänomen des Hundes, der einen Zaun braucht, um bellen zu können.
Trotz des Wetters verzichtet Schäfer auf eine Kopfbedeckung. Heute wird es passieren, das spürt er. Jenseits der Knochen. Da will er nicht so lächerlich aussehen wie das Piktogramm auf seinem Dienstwagen. Mit geübten Bewegungen holt er die Leiter aus dem Schuppen und teleskopiert sie über die Traufe. Den Weg über die wacklige Dachstiege kennt er blind, weil er bei Frau Lämmel stets alle Augen zugedrückt hat, was die Vorschriften angeht. Mit F oder mit V? Als er am First … schon wieder so ein Zweifelsfall … also in luftiger Höhe angekommen ist, bereut er seine Entscheidung in Sachen Kopfbedeckung. Egal, heute wird es passieren, das weiß er. Irgendwo hinter der Realität, wo sich die Achsen seines Blickes treffen, steht es geschrieben.
Er stemmt sich gegen den Wind und versenkt seinen Besen im Schornstein. Beim Herausziehen durchbricht ein klappendes Geräusch die heulenden Frequenzen der Luft. Die Tür?
Durch seine innere Wärmebildkamera schaut er nach unten. Frau Lämmel? In einer Wolke Küchenduft schwebt sie ihm vor, einen gelben Regenmantel über der Strickjacke.
Es war nicht die Tür. Es war die Leiter.
Doch Schäfer hält an seinem Wunschbild fest. Um es in Ruhe weiter ausmalen zu können, setzt er sich auf einen der Tritte wie in das Polster seines Dienstwagens. Die Ampel leuchtet grün, jetzt müsste er durchstarten. Rufen wäre das Erste in so einem Fall. Natürlich sinnlos, weil der Wind ihm die unerhörten Worte vom Mund reißen würde. Das Dach aufreißen und hineinsteigen, solange er noch Gefühl in den Fingern hat. Der Besen! Das Seil! Er könnte es am Schneegitter festbinden und daran hinabklettern. Mit der Kugel ein Fenster einschlagen? Die Ampel leuchtet grün, doch Schäfer sieht rot. Er bleibt einfach sitzen. Die Achsen seines Blickes haben sich hinter der Realität verknotet. Die Kälte weht durch seine Jacke wie durch ein Netzhemd. Warum friert er nicht? Weil es heute passieren wird, das weiß er. Wie lange er schon hier sitzt, weiß er nicht. Weil er nicht weiß, dass er hier sitzt.
Schäfer wird heiß. Frau Lämmels Vorname brennt in seinem Herzen. Aus dem Vertrag hat er ihn ausgeschnitten und hineingeklebt. Dagmar! Ein Name ohne wenn und aber. Ohne F und V. Warum hat er ihn nicht auf den Schornstein geschrieben? Mit rußgeschwärztem Finger. Oder … hat er? Gemeinsam würden sie nachsehen. Gleich morgen, wenn sie ihr Telefonat beendet hat. Eigenartigerweise kann er schon jetzt das Geräusch der Leiter beim Anlegen ans Dach hören. Dagmars Schritte auf den Aluminiumsprossen? Sie ist es wirklich. Mit unsicheren Bewegungen steigt sie Schäfer entgegen. Frau, denkt er. Aber warum schreit sie ihn so an? Glaubt sie, er wüsste nicht, dass Frau mit V geschrieben wird? Dabei kann er es doch ablesen am Ausschnitt ihres Pullovers unter der Strickjacke. Ihre Umarmung tut ihm gut, auch wenn er die Körperwärme nicht spürt. Eine heftige Böe bläst den Duft aus den Maschen, die nun beide Köpfe bedecken. Da ist es wieder, das klappende Geräusch. Egal. Sie ist da, das ist die Hauptsache. Jetzt kann ihm nichts mehr passieren.

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