Bodo Lessweiler (Pseudonym): Solange es nicht regnet, ist alles in Ordnung

1. Platz Putlitzer Preis® 2019

Ich bin froh, dass es hagelt und nicht regnet, obwohl die Hagelkörner mich hart im Gesicht treffen, vor allem jetzt gerade, wo der Wind von vorne kommt. Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, dass die Regentropfen in die Menschen einsickern, wenn sie welche abbekommen, und irgendwann in die Augen hoch steigen und aus ihnen wieder rausfallen.
Wenn es morgens aus dem Bad heraus nach Rasierwasser riecht, nein, roch, musste man vorsichtig sein. Denn wenn Opa irgendwas Offizielles erledigen musste, zum Amt gehen oder so, dann rasierte er sich, und dann lag mit dem Geruch immer schon Spannung in der Luft. Man musste alles genau beobachten und die Atmosphäre erfühlen, damit man sich rechtzeitig in Acht nehmen konnte.

***

„Wer war denn das?“
„Ich bin über einen Sessel gestolpert, das hab‘ ich doch schon gesagt.“
„Und die vielen blauen Flecken?“
Es war klar, dass irgendwas los bricht, schon, als Opa heute Morgen aus dem Schlafzimmer kam. Ich glaube, die Aschenbecher waren ihm nicht sauber genug, jedenfalls, plötzlich brach es los, und der Sessel hatte im Weg gestanden, ich hatte ihn beim Aufräumen ja selbst dort hin gerückt, um an die Kronkorken heranzukommen, die darunter lagen, und als ich zurückweichen wollte, bin ich drüber gestolpert und mit der Stirn an den Wohnzimmertisch geknallt. Ich hatte vor der zweiten Stunde extra frische Pflaster drüber geklebt, aber es hat trotzdem wieder angefangen zu bluten, und der Mathelehrer hat mich rausgeschickt, damit die Sekretärin mir Jod und eine Kompresse drauf tun kann.
„Bist du da auch über den Sessel gestolpert?
Ich nickte schnell.
Sie erzählte mir vorsichtig was von Vertrauenslehrer und Jugendamt und Pflegefamilie, ja, ja, Pflegefamilie, sogenannte Geschwister, die einem Reißnägel ins Bett legen und einen fertig machen, wo es nur geht … das hat Simon erzählt, und der weiß, wovon er redet.
Ich schwieg und schaute der Sekretärin ins Gesicht.
Regen stieg in ihren Augen auf.
Ich schaute weg und starrte auf das große rote Kreuz, das auf der hellbraunen Schranktür klebte.

***

Früher konnte ich mich bei Gewitter immer hinterm Sofa verstecken, aber irgendwann war ich dafür zu groß und passte nicht mehr in die Nische rein. Wegrennen ging manchmal, aber meistens hat es Opa nur noch mehr provoziert. Auf den Boden fallen lassen war die letzte Lösung, aber dann musste ich aufpassen, weil er anfing zu treten, und wenn ich mit den Armen meinen Kopf schützen wollte, trat er mir in den Bauch. Sein Geschrei war nicht so schlimm. Das war nur der Donner. Die Schläge und Tritte waren die Blitze.
Wenn es in letzter Zeit zu arg wurde, habe ich an Simon gedacht. Er ist jetzt da, wo kein Gewitter mehr ist, wo gar kein Wetter mehr ist.
Von dunklen Schatten waren seine Augen umgeben, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
„Hier, hab ich gefunden“, flüsterte er und kramte den Strick aus seinem Rucksack hervor.
„Woher hast du den?“, frage ich und befühlte das blaue Kunststoffding, das rau und steif war, als wäre es hundert Mal nass gewesen und von der Sonne trocken gebrannt worden.
„Ist von einem LKW gefallen“.
Ich hätte diesen verdammten Strick anzünden sollen, Simon in den Arm nehmen, ihn weg tragen, in Sicherheit bringen, aber ich schaffte es nicht, woher weiß ich denn, wie so was geht, jemanden davon abhalten sich umzubringen, um endlich Ruhe zu haben vom Leben?
„Aber … du bist doch mein bester Freund“, presste ich hilflos hervor.
Dann fühlte ich, wie der Regen in mir aufstieg, wie mir am Hals und im Gesicht ganz heiß wurde. Ich wandte mich ab. Hörte Simons Schritte, als er leise davon ging.
Sie haben lange suchen müssen, bis sie ihn gefunden haben, im Wald. Die große Hitze über Wochen hinweg hatte von ihm nicht mehr viel übrig gelassen. Der blaue Strick wäre unten dunkel verfärbt gewesen und oben ziemlich ausgebleicht, haben sie gesagt.
Egal, was noch über mich hereinbrechen wird: Ich sehe Simons Augen, die es jetzt nicht mehr gibt und bin in meinem Raum. Es ist hell und still, es gibt kein Gewitter dort, es gibt gar kein Wetter, es ist gar nichts da, kein Geschrei, kein Lärm, meinen Körper berührt nichts.

***

„Zum Geburtstag musst du dem Jungen doch was schenken!“
„Wieso nicht dein Rennrad, fährst ja eh nicht mehr!“
„Kannst du doch reparieren!“
Und wirklich, wie die Saufkumpane es Opa eingeredet hatten, an meinem Geburtstag stand das Rennrad in der Einfahrt, frisch geölt und blitzblank gewienert. Ich stieg auf und umfasste mit beiden Händen den Lenker links und rechts und testete die Bremsen, während Opa noch die Reifen aufpumpte. Das Lenkerband war akkurat gewickelt, es strahlte weiß und neu.
Opa erhob sich langsam, die Luftpumpe in der Hand, fixierte mich ohne ein Wort. Ich spürte die Spannung, die in seinem Blick lag, ich brauchte noch nicht mal aufzuschauen.
„Danke, Opa“, sagte ich. Dann trat ich mit aller Kraft in die Pedale, raste die Einfahrt hinab und bog in die Hauptstraße ein.

***

Das war gestern.
Die Straßen und Gebäude sind mir schon seit vielen Kilometern fremd, die Namen der Orte, durch die ich fahre, sagen mir nichts.
Vorhin, als ich durch einen Wald gefahren bin, trafen mich erste Tropfen aus der dichten Wolkendecke.
„Und, wohin?“, fragt die Frau, die im Buswartehäuschen sitzt, in dem ich mich unterstelle, um den Schauer abzuwarten.
„Da hin, wo kein Wetter mehr ist.“
Die Frau lacht.
Als der Bus hält und die Frau einsteigt, wechseln sie und der Fahrer ein paar Worte. Sie schauen beide zu mir hin. Ich nicke ihnen zu. Der Bus setzt sich in Bewegung und verschwindet hinter der nächsten Kurve. Inzwischen geht der Regen in Hagel über, ich kann weiter fahren.
Ich weiß, kein Wetter, das gibt es nicht. Aber ich werde fahren, bis es nicht mehr geht. Ich bin stark. Solange es nicht regnet, ist alles in Ordnung.

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