Karsten Ricklefs: Durstfieber

2. Platz Putlitzer Preis® 2018

Sie mussten ihn zurücklassen, Gott möge ihnen vergeben.

Sie hatten abwechselnd diesen kleinen zierlichen noch lebenden Jungenkörper getragen, im mexikanischem Grenzgebiet nicht unweit des Dollarlandes, in unterschiedlichen Positionen, diesen Körper, der zunehmend kraftloser wurde, sich kälter anfühlte, Leben aushauchend, Körperspannungen verlor. Die kalten Hände dieses Jungen umklammerten das Skateboard mit den gelben Rädern als wären sie schon ein Leben lang untrennbar miteinander verbunden gewesen. Der Schlepper schien zunehmend gleichgültiger zu werden, sein sonst so dominanter Macho-Ton verlor sich und sein Revolver baumelte nachlässig an seinem Hosen Bund. Er glaubte, der festgelegten Route zu folgen, die sie in das Dollarland führen sollte.
Da war diese kleine provisorisch mit Holz zusammengezimmerte Hütte, anfangs war sie als solche nicht erkennbar durch die flimmernde verspielte Hitzewolke. Apathisch, erschöpft, durstig, erhitzt, blieben sie stehen, die Männer mit ihren abgewetzten Rucksäcken und den zerlöcherten Plastiktüten aus den mexikanischen Billigdiscountern und starrten diese Hütte an, ungläubig, unsicher.
Santiago legte seinen Weggefährten mit dem Skateboard ab, behutsam landete der Körper auf der mexikanischen Erde und es legte sich sogleich eine feinkörnige bräunliche Staubschicht auf sein weißes T-Shirt und dieser Junge war still, sagte nichts, kein Wort und auch unter den Männern wurde kein Wort gewechselt bis Enrique der Schlepper in Richtung der Hütte zeigte und seine Armbewegung wirkte wie in Zeitlupe.

Enrique nahm diesen Jungenkörper an sich, und es erschien im ersten Moment so als wolle er ihn umarmen, seine Kräfte versagten, er bekam ihn nicht aufgehoben, diesen Körper, seine Armmuskeln waren der erforderlich abverlangten Bewegung nicht gewachsen und seine Beine drohten ihm unter dem Gewicht nachzugeben und er blieb liegen, der Junge mit dem Skateboard dessen kurze schwarze Haare in der Sonne glitzerten. Da waren die ersten kleinen Barthärchen zu sehen, ganz fein verteilt an seinem Kinn, und schon bald würde er sich rasieren müssen , seine Lippen waren ausgetrocknet, rissig, aufgeplatzt, blutig und sein leicht hervorgetretener Kehlkopf bewegte sich leicht in der Erwartung dringend benötigte Flüssigkeit zu transportieren, und diese braunen Augen blickten leer in den blauen Wüstenhimmel.
Sie waren ohne ihn weitergezogen, die Männer, und er wusste nicht an welchem Ort er sich befand, es roch nach verbranntem Feuerholz und Tortillas und es dämmerte leicht in dieser Hütte und er konnte durch eine kleine Öffnung in der Bretterwand einen Fetzen blauen Himmels sehen. Unter seinem Rücken fühlte es sich weich an. Seine Hand umfasste etwas Vertrautes, sein Skateboard, versehen mit all den amerikanischen Aufklebern, die er gesammelt hatte, einige hatten sich jedoch bereits gelöst so dass nur noch Teile der amerikanischen Flaggen zu sehen waren, und sein Lieblingsaufkleber auf dem in großen Lettern stand „GOD BLESS AMERICA“ das Amerika eingebüßt hatte und das stattdessen jetzt die verblichene Grundfarbe Rot zu sehen war. Eines der gelben Räder hatte sich vom Board gelöst, „es war schon immer das Problemrad“ dachte er ein wenig besorgt. Seine blauen Sneaker standen zerschlissen neben dieser Lampe auf dem Tisch und manchmal konnte er beim Laufen den kleinen Zeh seines linken Fußes sehen. Er erinnerte sich an jenen Tag, an dem er glücklich und stolz den unter Mühe zusammengesparten Betrag auf den Verkaufstresen legte und der alte Herr Lopez Ramirez ihm diese Schuhe feierlich überreichte. Seit diesem Tag hätte er sie am liebsten nie wieder ausgezogen, diese Schuhe.
Der Junge spürte die Kälte wie eine Welle auf sich zukommen, seine Muskeln begannen unkontrolliert zu zucken, als wenn er mehre Stromstöße verabreicht bekommen würde und er spürte seinen Kopf vor Schmerz explodieren. Zwei Hände legten ihm behutsam eine Decke über seinen sich schüttelnden zitternden Körper, die jedoch seine eiskalten Füße aussparte und ihm nur bis an die Knöchel reichte. Sie fühlten sich so kalt an, seine Füße, und sie waren so müde von der langen Reise und er dachte an seine Familie und ein tiefer Schmerz durchzog seine junge Seele.
Verzweifelt versuchte er sich mitzuteilen aber seiner Stimme fehlte die Kraft. Er glitt hinab in die Flucht der Fieberträume, träumte von der Grenzmauer, die sich in eine kalte klebrige Masse verwandelte und ihn erdrückte. Da waren die Pferde, dieses Hufgetrampel, welches ihn unruhig machte, es erschein ihm so laut im Traum, dieses Geklapper und Gewieher.
Da sah er wieder diesen Arm, diese von braunen Altersflecken überzogene Hand, die sich ihm mit einer weißen Porzellantasse näherte, sie fühlte sich kalt und hart an, diese Tasse, an seinen Lippen und er nahm etwas von der kostbaren durchsichtigen Flüssigkeit zu sich und er sah diese sehr alte dürre Frau mit ihren langen grauen Haaren am Rand seines Bettes sitzend.
Wie sehr er diesen Traum liebte und dieses Land seiner Träume, voller Skateboards und Fast Food Restaurants und diese Burger, die er so sehr liebte und er würde diesen Traum verwirklichen, schon bald. Er würde seiner Familie ein Haus bauen, in Alegria, El Salvador, seinem Land, seine Mutter würde einen Herd bekommen und sie müsste nicht weiterhin auf der alten Autofelge kochen und er würde eine Amerikanerin heiraten und sie würden ganz viele Kinder haben und seine Familie würde sie Ostern und Weihnachten besuchen kommen. “Alegria“, dachte er, “ja welch Freude“ und sein Glücksgefühl im Traum wurde wieder durch das Geklapper, Gewieher, und Getrampel der Pferde abgelöst und dieses Mal hörte er einen Knall, einen Schuss, und dieses Knallen wurde immer lauter aber er wusste nicht woher dieses Knallen kam bis er wieder diese Hand sah, die ihm über die Stirn streichelte, sie fühlte sich rau an, diese Hand, beruhigend und ein wenig kratzig, die Hand dieser sehr alten Frau, die vorsichtig behutsam fast zärtlich seine linke Hand nahm und kleine kreisende Bewegungen in seiner Handinnenfläche vollführte und er dachte in diesem Moment an seine Großmutter im Himmel und schaute fragend diese sehr alte Frau an, die an seinem Bett saß.
„América?“
„Ja, mein Junge, América“ dabei hielt sie in ihren kreisenden Bewegungen inne und umschloss liebevoll seine kalte Hand.
Ein letztes entspanntes Seufzen durchzog seinen Körper, seine Hand umklammerte das Skateboard, und er schloss die Augen.

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