Henrik Lode: Déjà-vu

3. Platz Putlitzer Preis® 2018

Als der Wanderer an die Weggabelung kam, blieb er unentschlossen stehen. Sein Blick fiel auf ein verrottetes Schild, das zu seinen Füßen im Grase lag. Der Wegweiser war bis zur Unkenntlichkeit verfault. Der Wanderer erwog kurz, durch das Unterholz weiterzumarschieren. Dann entschied er sich für links und setzte seinen Weg fort.
Nachdem er eine Weile gewandert war, kam er an eine leere Futterkrippe. Verwittert stand sie im Schatten einer Buche, einzig der Pelz aus Flechten schien ein Auseinanderfallen zu verhindern. Da der Wanderer kein Freund langer Wanderungen war, beschloss er, zu rasten. Er setzte sich ins Gras, sog Luft durch die Nase und lauschte nach dem Schmerz in seinen Füßen. Seit Stunden schon lief er, lief ohne Pause, lief ohne Hast. Menschen waren ihm nicht begegnet. Einzig ein Hase, zur Hälfte verwest, hatte am Wegrand liegend seinen Weg gekreuzt.
Der Wanderer erblickte ein vierblättriges Kleeblatt. Einsam wuchs es neben seinem Schuh, verzierte ein kleines Kissen aus Moos. Er pflückte es ab, verwahrte es in der Jacke; dann stand er auf und setzte sich wieder in Bewegung.
Stoisch schritt er voran, betrachtete ehrfürchtig die Wipfel der Bäume. Riesige Buchen, knorrige Eichen, dazwischen die Reste gefallener Riesen. Wie alt mochten sie sein, die Mächtigen, die Großen; wie alt gar noch werden – verglichen mit ihm? Der Wanderer schluckte, Beklemmung beschlich ihn. Schnell sah er nach seiner Uhr, aber sie war stehengeblieben.
Nicht lange darauf gewahrte er in der Ferne eine Weggabelung. Einen Wegweiser sah er nicht. Der Wanderer erreichte den Abzweig und blieb stehen, als sein Blick auf ein verrottetes Schild fiel, das zu seinen Füßen im Grase lag. Das Holz am Ende des Pfahls war bis zur Unkenntlichkeit verfault.
Dem Wanderer lief ein Schauer über den Rücken. Ungläubig betrachtete er das Schild, dann hielt er den Atem an und horchte in das Dickicht, doch bis auf seinen Herzschlag war nichts zu hören. Zaudernd wandte er sich wieder der Gabelung zu, entschied sich für rechts und setzte seinen Weg fort.
Einige Zeit später erblickte er etwas am Wegrand. Im Schatten einer Buche stand eine Futterkrippe, fast vollständig mit Flechten bedeckt. Fassungslos starrte der Wanderer auf die Krippe. Zu ihren Füßen ein Kissen aus Moos, darauf ein einsames Kleeblatt. Hastig griff der Wanderer in seine Jackentasche, aber sie war leer. Schweiß brach ihm aus, vergebens überlegte er, welche Richtung er am Abzweig eingeschlagen hatte. Sei kein Narr, dachte der Wanderer und schloss die Augen. Ein Schritt rückwärts, zwei nach vorn. Er lauschte kurz nach seinen Füßen, dann wandte er sich um und ging den Weg zurück.
Bald darauf sah er die Gabelung. Verlassen lag sie dort – ein Kreuzweg ohne Wegweiser. Der Wanderer schirmte die Augen, verlangsamte seinen Schritt. Schleichend überkam ihn ein ungutes Gefühl. Er wusste nicht, was ihn irritierte; zögernd ging er näher, betrachtete angestrengt den Abzweig. Dann erblickte er den Holzpfahl im Grase – genau so, wie er ihn schon zweimal vor sich gesehen hatte.
Der Wanderer traute seinen Augen nicht, Angst befiel ihn. Mit Schrecken betrachtete er die Pfade und das verfaulte Schild in ihrer Mitte. Zitternd versuchte er nachzudenken, aber es wollte ihm nicht gelingen. Schweiß stand auf seiner Stirn, der Atem ging schwer, sein Herzschlag durchdonnerte die Stille des Waldes.
Gehetzt drehte sich der Wanderer im Kreis, ging in die Knie, griff nach dem Schild, sprang wieder auf, drehte sich von Neuem – und rannte los, mitten in den Wald hinein. Zweige peitschten sein Gesicht, zerkratzten seine Arme, zerrissen sein Hemd. Er stolperte, rappelte sich auf, lief weiter, kämpfte mit dem Gestrüpp, und rannte und rannte. Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er sich durch das Unterholz schlug.
Ein Ast traf seinen Kopf, der Wanderer stürzte. Auf allen Vieren kroch er weiter, zwang sich mühsam auf die Füße, durchsprang einen Strauch – und fiel am Rande eines Waldweges zu Boden. Keuchend zog der Wanderer seine Knie an den Körper und umschlang sie mit den Armen. Seine Augen blinzelten gen Himmel, geblendet vom wiedergefundenen Tageslicht.
Nachdem er eine Zeit gelegen hatte, richtete er sich auf und sah den Pfad entlang. Die Trittspur war durchsetzt von Wurzeln und Gräsern – ein Waldweg, der aussah, wie jeder andere. Erschöpft sank der Wanderer hintenüber, als ihm ein fauler Geruch in die Nase stieg. Angewidert rollte er sich herum. Hinter ihm lag ein halber Hase.
Der Wanderer sprang auf und taumelte rückwärts. Es war Stunden her, dass er an dem Kadaver vorbeigekommen war. Er versuchte sich zu erinnern, an welcher Seite des Weges der Hase gelegen hatte – ohne Erfolg. Verwirrt und entkräftet stürzte der Wanderer ins Gras. Sein Kopf schmerzte, Müdigkeit überkam ihn. Nachdem er einen Moment dagegen anzukämpfen versuchte, fielen ihm die Augen zu.

*

Das Mädchen stellte den Korb ab und musterte die Umgebung. War das der Weg, den sie gekommen war? Der Pfad war gesäumt von Büschen und Bäumen, am Boden Zweige, Wurzeln und Moos. Kein Unterschied zu all den anderen Pfaden. Verärgert betrachtete sie ihren leeren Korb. Ein herrlicher Tag, ein herrlicher Wald, kein einziger Pilz. Stundenlang hatte sie gesucht, stundenlang nichts gefunden.
Seufzend nahm sie den Korb auf und ging weiter. Die Sonne stand schon tief, malte bizarre Schatten an die Erde. Nicht mehr lange, und es würde vollkommen dunkel sein. Das Mädchen sah auf seine Uhr, aber die war stehengeblieben.
Plötzlich entdeckte sie einen Hasen. Reglos kauerte er am Wegrand, tief geduckt zwischen Gräsern und Laub. Leise schlich sie näher, um ihn nicht zu verscheuchen. Doch vom Hasen war höchstens die Hälfte geblieben, der Rest ein von Maden durchsetztes Stück Aas. Angeekelt wandte das Mädchen den Blick ab und lief daran vorbei, als sie über etwas stolperte und lang hinfiel. Verdutzt setzte sie sich auf und drehte sich um. Hinter ihr lag ein halber Wanderer.

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