Axel Lawaczeck: Halali

4. Platz Putlitzer Preis® 2018

Im Mais war Bewegung. Doch den guten Blick, den die sternenklare Mondnacht im späten August zuließ, trübte der Frühnebel der Morgendämmerung, der aus dem Feld aufstieg.
Auf den brandenburgischen Wipfeln der Bäume entlang des Feldrains erschienen bereits erste Nuancen zarter Aurora. Mensing war durchgefroren. Wieder mal hatte er die Temperaturen der Nacht unterschätzt. Etwas Wärme hatte ihm gelegentlich der Calvados verschafft, doch sein Flachmann war seit einiger Zeit leer. Mit den hörbaren Bewegungen in ungefähr 100 Metern Entfernung schärften sich wieder seine Sinne. Auch Blacky, sein Münsterländer, der wie gewöhnlich unter dem Ansitz still verharrte, hatte Witterung aufgenommen. Starr aufgerichtet folgte er den Geräuschen brechender Pflanzen.
Mensing schaute angestrengt durch sein Nachtglas. Da, erneut. Ein größerer grauer Schatten, genau dort, wo der Mais von den Rotten niedergetrampelt worden war. Mensing wusste schon nicht mehr, wieviel Geld ihn die Schwarzkittel gekostet hatten, weil er als Förster den Bauern die Ernteschäden zu ersetzen hatte. Es war definitiv genug.
Das Tier war leidlich gut anzusprechen. Vermutlich ein abgesprengter Keiler. Vielleicht auch ein jüngerer Überläufer. Dieses verdammte Schwarzwild. Jetzt würde das Tier keinen Wind bekommen, eine klare Gunst des Moments, die Brise wehte zu seinem Ansitz herüber. Mensing griff behutsam nach seinem Drilling, legte an und schaute durch das Visier. Schnell und routiniert hatte er sein Ziel erfasst. Als er für einen Bruchteil ganz deutlich die graue Flanke inmitten der Maisstauden sah, drückte er ab. Der gewaltige Büchsenknall rollte über das Feld, aus dem Schwärme aufgeregter Vögel himmelten. Im Nachhall des Schusses vernahm Mensing ein dumpfes Grunzen, das schnell erstarb. Beim Hubertus, er hatte das Mistvieh erwischt! Waidmannsheil!
Behende kletterte er von seinem Ansitz herunter und gab Blacky ein Zeichen, der sofort losschoss, um das Feld abzuspüren, dem Duft des Schweißes folgend. Mensing stapfte guter Dinge hinterdrein und schob die ihm entgegenschlagenden Maispflanzen, die bereits mannshoch standen, aus dem Weg. Wenige Minuten später hatte er seinen Hund erreicht.
Blacky beschnupperte den Kopf des alten Mannes, der zwischen den Maisstauden lag und von Mensings Schuss niedergestreckt worden war. Die Wucht des Schusses hatte ihn auf den Rücken geworfen. Der Mann trug einen grauen Pyjama. Der Blick seiner gebrochenen Augen war starr in den Himmel gerichtet. Er hatte einen struppig weißen Bart und war wohl mindestens 80 Jahre alt. Die Kugel hatte den mageren Körper unterhalb der rechten Schulter im oberen Rippenbereich unweit der Achsel getroffen. Er musste sofort tot gewesen sein, es war kaum Blut ausgetreten.
Blacky schaute Mensing fragend an, der sich am Kopf kratzte und überlegte. Was hatte denn der alte Mann im Maisfeld verloren? Mensing kauerte sich neben den Leichnam und suchte am Handgelenk nach einem Pulsschlag. Doch da war nichts mehr, nur noch zerrinnende Wärme. Eine Weile hockte Mensing so da, dann sagte er, eher zu sich selbst als zu seinem Hund: „Tja, auf den Aufbruch können wir wohl immerhin verzichten, was, Blacky?“
Mensing wusste, was nun zu tun war. Dieses Vorkommnis war ein Fall für die 3-S-Regel: Schießen, Schippen, Schweigen. Eigentlich galt sie nur für streunende Hunde und Katzen, im seltenen Fall auch für Wölfe, doch Mensing beschloss, in diesem durchaus speziellen Fall nicht kleinlich zu sein. Er ging mit Blacky zu seinem Auto und holte eine Schaufel.
Es dauerte eine Weile, bis er den Toten in den Wald gezogen hatte, wo er im weichen Boden neben einer Wildschweinsuhle eine tiefe Grube aushob. Warm wurde ihm, und die in den ersten Sonnenstrahlen des Tages tanzenden Mücken piesackten ihn. Schließlich zog er den alten Mann in das tiefe Loch und schippte die Erde wieder zurück. Als er Stunden später sein Werk beendet hatte, begab er sich auf den Heimweg. Blacky sprang in den Kofferraum seines Autos, ächzend ließ sich Mensing hinter dem Steuer nieder. Was für eine Nacht.
Er schaltete das Radio ein und fuhr langsam über holprige Forstwege, bis er die Landstraße erreicht hatte. Dabei lauschte er den Schlagern seines Lieblingssenders, während er langsam zur Ruhe kam. Es war jetzt 7 Uhr in der Frühe und die Nachrichten wurden verlesen, der übliche Weltenwahn aus Politik, Wirtschaft, Wetter und Verkehrsfunk, der allerdings von einer Durchsage ergänzt wurde: „Achtung, liebe Brandenburgerinnen und Brandenburger, gesucht wird Werner Zeisner aus Neustadt-Glewe. Er wird seit gestern Abend vermisst und irrt vermutlich orientierungslos umher. Werner Zeisner ist 83 Jahre alt, trägt einen grauen Schlafanzug, … “
„Aha“, sagte Mensing.
„ … hat weiße Haare, einen weißen Bart und ist von schlanker Gestalt. Bitte informieren Sie umgehend die nächste Polizeidienststelle, wenn Sie Werner Zeisner sehen. Werner Zeisner benötigt dringend ärztliche Hilfe.“
Förster Mensing drehte das Radio aus, schüttelte den Kopf und schaute in den Rückspiegel zu seinem Hund: „Das ist ja wohl eine Fake News, was, Blacky? Werner Zeisner braucht definitiv keine ärztliche Hilfe mehr.“
Blacky gab kurz Laut, und Mensing drehte sich wohlwollend nach seinem Hund um: „So sieht’s aus, Blacky! Hunde bellen, Frauen tratschen, Männer reden, Jäger schweigen.“
Weiter fuhr Mensing durch die Nacht. Und, als er eine ganze Weile intensiv über das Geschehen nachgedacht hatte, kam er, kurz bevor er den heimischen Hof erreichte, zu einer gewichtigen Erkenntnis, die ihm in der Hast des Vorfalls bisher unzugänglich geblieben war. Bei aller nicht unberechtigten Kritik am fehlerhaften Ansprechen des vermeintlichen Wildschweins blieb doch zweifelsfrei festzustellen, dass ihm da ein tadelloser Blattschuss gelungen war. Mensing fuhr auf seinen Hof und stieg aus. Er streckte sich und gähnte. In der nächsten Nacht würde er wieder ansitzen, vielleicht hatte er da etwas mehr Jagdglück.

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