Dominik Haitz: Die Bärin

5. Platz Putlitzer Preis® 2018

Die junge Schneiderin Alma sitzt in ihrem Zimmer und näht ein Fell. Das ganze Jahr hat sie gesammelt: schwarze Federn und Flusen, Rosshaar und Riemen, Schnüre und Lumpen. Das Bärenkostüm ist fast fertig. Sie hält es sich vor den Körper und betrachtet sich im Spiegel.
Die Briefe ihres Verlobten Fritz liegen vor ihr auf dem Tisch; ein Stapel, zusammengehalten von einer Schleife, die sie mehrmals täglich löst und wieder schnürt. Das Band ist ein Streifen von seinem Schlafhemd, den er abegeschnitten und ihr geschenkt hat, bevor er ging. Sie liebt seine Handschrift und sie weiß, dass er an sie denkt, selbst unter stärkstem Beschuss.
Sie überfliegt die Briefe und hört die Worte in seiner Stimme, als säße er auf dem Bett und würde ihr vorlesen.
„Liebste Alma!“
„… kämpfen um jeden Meter …“
„… ein eigener Hof, mit Platz für viele Kinder …“
„… dem Führer das höchste Opfer bringen …“
„… dann bete für mich mit, für die Heimat und unser Wiedersehen …“
Sie erinnert sich, wie sie ihn das erste Mal gesehen hat: bei seiner Arbeit als Zimmerman, den Schweiß auf der Stirn, aber den Scheitel akkurat. Alma war mit ihrer Mutter beim Markt, Fritz hat ihr gewunken, sie hat die Geste erwidert, und ihre Mutter hat sie nach Hause gezerrt. Sie denkt an die heimlichen Treffen bei der alten Eiche oder wie er sie beim Tanzen geführt hat, und sie denkt an die Stunde im Weizenfeld, bevor er ging.
Sie betrachtet sein Bild, in Uniform. Er sieht stolz und stark aus. Sein Blick will alle überzeugen, dass er bereit ist, fürs Vaterland zu sterben, aber sie weiß, dass er manchmal noch ein Kind ist. Sie wünscht ihm Tapferkeit vor seinen Kameraden, in seiner Kompanie.

Voller Stolz trägt sie das Kostüm. Der Umzug findet statt, aber viel weniger Leute sind gekommen als vor ein paar Jahren, als noch an jedem Haus, an jeder Laterne im Dorf die Banner mit dem Hakenkreuz hingen. Jetzt sind kaum noch welche da, auch die Leute von der Partei fehlen. Alma läuft hinter dem Festwagen her. Sie ist die einzige echte Bärin, die anderen Mädchen tragen höchstens dunkle Mäntel oder Umhänge.
Der Bürgermeister betrachtet den Festumzug. Er hat ihn nur widerwillig genehmigt, wegen der Tradition, eigentlich haben sie ja andere Sorgen, hätten anderes zu tun. Es weiß ja keiner so recht, wie es weitergehen soll, die nächsten Monate und überhaupt. Der Bürgermeister winkt und lächelt. Vom Festwagen werfen sie Sägespäne. Das ist das einzige, was man sich noch leisten kann, und selbst das wird vielleicht knapp werden, im nächsten Winter. Einige Kinder tragen Säckchen und sammeln die Späne auf, klauben sie aus den Ritzen im Pflaster. Alma neckt die Kinder mit ihren Tatzen.
Durch den Regen aus Holz sieht sie Erna, die Mutter von Fritz, auf sie zukommen, die Augen glänzend vor Tränen. In ihren Händen, den rauen Händen einer Wäscherin, hält sie einen Brief und ein Band, an dem ein eisernes Kreuz baumelt. Alma begreift, dass Erna das Kreuz von der Wehrmacht bekommen hat, als Ersatz für das Leben ihres einzigen Sohnes.
Ihr wird es schwindelig, sie sinkt auf das Pflaster, inmitten des Festumzugs. In ihren Ohren brummt es, immer lauter, und alle schauen zum Himmel: Ein Flugzeug fliegt über die Straße, über das Dorf hinweg, so tief, dass man die Reifen des Fahrwerks erkennen kann.
„Spitfire“, ruft der kleine Oskar, der alle Flugzeuge an ihren Silhouetten erkennt, die feindlichen und auch die deutschen, die man immer seltener sieht. Das Dröhnen des Flugzeugs wird vom Heulen der Sirenen abgelöst.
Der Umzug stirbt in Sekunden. Die Menschen stürmen davon, durch die kleinen Gassen zu ihren Luftschutzkellern. Oskar sieht zu der Bärin, die am Boden liegt, aber dann läuft auch er weg.
Alma rafft sich auf und rennt los. Sie rennt vorbei an Häusern und Scheunen, vorbei an Heugabeln und Pflügen und Fuhrwerken, und über den Bach. Ihre Bärentatzen hinterlassen Abdürcke im Uferschlamm.
Am Dorfrand ist sie außer Atem, verschnauft und lehnt an der alten Eiche, hält sich an der zerfurchten Rinde fest. Sie wischt sich die Tränen aus den Augen und verflucht den Krieg, sie verflucht die Hymnen und Fahnen, den Führer und seine Reden. Das ist alles nichts, wofür es sich zu sterben lohnt, wieso hat Fritz das nicht gesehen. Sie schlägt mit der Faust gegen die Eiche und rennt weiter, durch die Weizenfleder in Richtung Wald.

Der Gipser Herbert ist auf dem Heimweg zu seiner Frau Erna. Er hat die Hure Dorothea besucht, in ihrer Hütte im Wald, für ein Handvoll Kaffee und ein paar Eier. Sein Blick gleitet über die Felder, und er sieht das schwarze Fell, kaum höher als die Weizenhalme.
Er nimmt den letzten Schluck aus seiner Flasche Selbstgebranntem.
An seiner Schulter hängt ein Gewehr. Er hat es immer dabei, seit einer Woche, weil sie ja bald kommen, die Engländer und Amerikaner und das dreckige Russenpack. Wenn er zum Volkssturm muss, kann er ja schon mal üben. Er nimmt die Waffe ab und lädt sie durch; so ein toter Bär, das wär ja fast so gut wie ein toter Russ‘. Er schwankt, aber das Zielen kann er noch gut aus dem ersten Krieg, das liegt ihm im Blut. Damals hat er an der Front gekämpft, genau wie jetzt sein Sohn, der tapfere Junge.
Er legt einen Finger an den Abzug und zielt.

Alma läuft durch das Weizenfeld, so schnell sie kann. Ihr Körper schmerzt, aber sie will es so, will nichts anderes spüren als das Brennen in ihren Lungen und Beinen.
Es knallt und sie stolpert und sie denkt an Fritz, und dass jetzt wirklich, tatsächlich ihr Herz gebrochen ist. Sie stirbt in ihrem schwarzen Fell auf einem Bett aus Korn, das sich rot färbt, wie der Abendhimmel über ihr.

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