Bernd Großmann: Another Brick

6. Platz Putlitzer Preis® 2018

Wie lang mag es her sein?, dachte sie, als sie ihren Mann schweigend betrachtete. Er saß in seinem Lieblingssessel, den Kopf leicht nach hinten gebeugt, und einige schnorchelnde Laute entrannen dem Spalt seines geöffneten Mundes, wobei die Lippen im entweichenden Luftstrom unmerklich vibrierten. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, strich ihm eine Strähne aus der Stirn und fuhr zärtlich über seine stoppelige Wange. Der Hund neben ihm hob mit verträumten Augen den Kopf.
Ja, vor ziemlich genau fünf Jahren war’s, kurz nach den Sommerferien in Dänemark. Was war ihr Gernot noch voller Lebenslust, sprühend vor kindlichem Humor, wenn er mit Gerrit durch die Dünen tollte oder sich von ihm einbuddeln ließ. Der perfekte Opa, manchmal ’n beten tüddelig, wenn der Lütte ihm zum x-ten Mal den Gebrauch des Handys erklärte oder – „Opa, willste mit deinen Sachen wieder Versteck spielen?“ – dessen Brille im Kühlschrank neben der Butter fand.
Aber er konnte über seine Tüddeligkeit stets herzlich lachen, „Ich werd‘ halt alt, mien Jung. Nächst‘ Jahr null‘ ich zum sechsten Mal. Da braucht ’n Opa ’n büschen, um so’n neumod’schen Kram zu kapieren.“

So war er, der Gernot. Immer über sich selbst am lautesten lachend. „Muscha“ war seine Devise, irgendwie kriegen wir’s schon gebacken. So mochten ihn auch seine Schüler, für die er sich aufopferungsvoll einsetzte. Und ‚Muscha-Gernot‘ hat für seine Kids sogar Klinken geputzt, um am Ende ihrer Schulzeit jeden seiner Rasselbande unterzubringen. Das gehörte für ihn zum pädagogischen Auftrag.
Eine Woche nach den Sommerferien kam Gernot aber verstört nach Hause. „Du, Gesa, stell‘ dir vor. Heut‘ hab‘ ich vergessen, wie mein Schulleiter mit Vornamen heißt. Ich hab‘ vielleicht rumgeeiert. Es wollt‘ und wollt‘ mir nicht einfallen. Bis er von ’nem Kollegen gegrüßt wurde. Max! Klar doch!“ und er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Meine Güte! Mir fiel’s wie Schuppen von den Augen.“
Gesa legte ihm die Hand auf den Arm: „Ach, Gernot, du musst dir so viele Schülernamen merken. Gestern bin ich unserer Blumenfrau von nebenan begegnet und mir ist ihr Name partout nicht eingefallen. Mach dir also keinen Kopf.“
Doch Gernot machte sich einen Kopf, zumindest seit er auf dem Elternabend ein Wort nicht parat hatte. Wie hieß sie noch, die Form der individuellen Förderung, die sich seine Schule seit Kurzem auf die Fahnen geschrieben hatte? Seine Ausführungen, die neuen pädagogischen Grundsätze betreffend, waren klar und verständlich, doch er verstand es, diesen Begriff zu umschiffen. Im Inneren jedoch rumorte es und die Suche nach diesem Wort ließ ihn den Abend über nicht los. Selbst bei der Wahl der Elternvertreter fehlte ihm, gestört durch das unaufhörlich kreisende Suchen, die volle Konzentration. Als alle Eltern gegangen waren, öffnete sich sein Mund und neun Buchstaben purzelten vor ihm aufs Lehrerpult. „Inklusion“. Da war’s, das Wort. Aus dem Abseits. Er starrte es an und schüttelte ungläubig den Kopf.

In Gesprächen bekam er erst komplizierte, später oft auch einfache Sätze nicht mehr zu Ende formuliert. Sie hingen in der Luft wie flatternde, ausgefranste Fahnen, die, den Halt am Mast verloren, abzureißen und im Winde wegzuwehen drohten. Seine Zuhörer, die ihn als regen Diskutanten schätzten, sahen ihm an, wie er verstört, fast verzweifelt, nach dem Ausweg aus dem Gedankenknäuel suchte, ihn aber nur unter großen Mühen fand. Dann verlief er sich kopflos im Labyrinth seines Kopfes.
Gernot bedrückte das Gefühl, dass ungebetene Maurer Wände um ihn hochzogen. Er erlebte dies bewusst, teils verunsichert und wütend, teils ängstlich und resignierend. Er versuchte es zu kaschieren, erfand Strategien, über die noch niedrige Wand zu springen, wenn er einen Namen oder einen Termin vergessen hatte. Allein schimpfte er aber lauthals mit seinem Hirn. Doch alle noch so gut gemeinten Kreuzworträtsel konnten die Maurer nicht davon abhalten, die Wand Stein für Stein höher zu ziehen. Unwiderruflich. „Another brick in the wall“.

Als Gernot nach einer Klassenkonferenz eine Ampel übersah, kam es zu einem Unfall. Zum Glück nichts Schlimmes, nur Blechschaden, alles reparabel. Doch ihm wurde klar, wie sich eine bedrohlich aufragende Wand zwischen ihn und die Ampel geschoben hatte. Er hatte das rote Licht einfach nicht gesehen, sehen können. Er war hinter der Wand. Hatte sich gedanklich verlaufen.
Ein schmerzlicher Weg führte ihn zum Personalärztlichen Dienst, der ihm eine fortgeschrittene Demenz attestierte. Der Weg in den vorzeitigen Ruhestand war vorgezeichnet, denn die Mauer wurde unweigerlich dicker und höher. Stand er während seiner Schulzeit noch weitgehend vor der Wand, würde er sich immer öfter dahinter verirren. In ein Leben der Irrungen und Wirrungen. Im Labyrinth seines Kopfes.

Gerrit, sein ‚plietscher Bengel‘, besuchte ihn regelmäßig, um Mensch-ärger-dich-nicht zu spielen und ihm vorzulesen. Er konnte dies so trefflich, dass Opa oft bald einschlief, die Geschichte aber bestimmt zu Ende träumte. Während er in seinem Lieblingssessel dahinschlummerte, saß Gerrit mit Oma zusammen und sie sprachen darüber, was für ein toller Opa der Gernot war. „Weißt du noch …?“
Als Gerrit wieder einmal zum Brettspiel und Vorlesen erschien, blickte Gernot ihn prüfend an und fragte Gesa zögernd: „Ist das Gerald? Kommt der auch mal zu Vaddern?“ Seine Unsicherheit war ihm in jeder Körperfaser anzumerken und drückte sich auch in den unruhigen Augen aus. Doch Gerrit ging selbstbewusst zu ihm, legte die Hand vertraut auf seine Schulter und sagte: „Ich bin’s doch, Opa. Der Gerrit, dein Vorleser.“
Gernot entspannte sich schlagartig und erwiderte: „Ach ja, wie blöd von mir. Ich komm‘ mal eben hinter meiner Wand vor. Hab‘ mich nur verlaufen! Sind ja noch genug Türen drin.“ Und lächelnd zog er seinen Enkel an sich, ihn innig umarmend.
Als dieser ’nach getaner Arbeit‘ gegangen war, wandte sich Gernot flüsternd an seine Gesa: „Sag, Gesa, wenn ich ganz hinter meiner Wand verloren gehen sollte und alle Türen zugebaut sind, bleibst du dann vor ihr und bei mir?“
„Na, Gernot. Was denkst du? Natürlich bewach‘ ich dein Gebäude. Früher warst du mein Ger, mein Speer, heute bist du in Not. Das kriegen wir beide schon hin. Muscha, Gernot.“
Beruhigt streckte Gernot die Hand aus und kraulte das Fell seines Hundes. Auch wenn er sich wieder verlaufen sollte, war das sein Anker nach draußen.

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