Ulrike Sabine Maier: Und unsere Schritte

1. Platz Putlitzer Preis® 2018

Unsere Schritte sind stolpernd und kurz. Als wären zwischen dem Sarg, der in dem offenen Bestattungswagen vor uns fährt, und unseren Hälsen unsichtbare Seile gespannt. Timos Mutter läuft neben uns her und schluchzt. Sie ist die Einzige.

Er hat es genau drei Jahre danach getan, hab ich zu Niko gesagt. Dass er ins Wasser gegangen ist. Genau auf den Tag. Drei Jahre danach.
Halt die Fresse, hat Niko gebrüllt und die Verbindung unterbrochen.
Und jetzt stolpern wir nebeneinander her. Wir haben beide die Haare wachsen lassen. Aber Haare sind kein Gras. Und die Sache ist nichts für die Zeit.
Der Sarg war sein Gesellenstück, hat uns der Meister mitgeteilt. Er hat uns nicht dabei angeschaut.

Wir schwanken an Ahmeds Eltern vorbei, sie stehen am Straßenrand, mit leerem Blick. Das Seil um meinen Hals zieht sich zu, ich huste. Niko räuspert sich immerzu.
Und, wie ist es da?, fragt mich Niko flüsternd.
Na, wie es im Internat halt ist. Wie Knast!, sage ich. Niko kratzt sich mit seinen Fingern am Kopf. Ich sehe das Schwarze unter seinen Fingernägeln.
Ja, Knast, sagt er. Und wenig Schlaf.
Ich weiß nicht, ob er Schichtarbeit meint. Unter Tage lebe und arbeite er, hat er mir nur knapp am Telefon gesagt. Wir können nicht mehr miteinander reden. Seitdem. Über die Sache schon gar nicht. Aber sie ist pausenlos unter den Haaren. Und unter den Haaren ist schwarz und Untertage und wenig Schlaf und immer dieselben Bilder.

Timo war der einzige von uns, der damals eine Lehrstelle hatte. Deshalb konnte er auch nicht so einfach weg. Die Sache ist eigentlich Langeweile. Die macht dich fertig. Die macht dich schlecht. Wenn es nichts gibt. Nichts außer der Schreinerei. Weil gestorben wird immer. Und hier wird nur noch gestorben. Und das Bier in Flaschen und aus Flaschen getrunken und die Flaschen immer in der Hand. Ob du sechzehn bist oder sechzig, da fragt keiner.

Und die Sommer brüten dir im Kopf. Wenn das Blut pulsiert und alles auf Alarm steht und zum Sprung bereit, mit sechzehn, und die Zeiger auf Abenteuer, aber außer dem Tarzanseil am Dorfteich ist da nichts. Ein Tarzanseil und Bier aus Flaschen.
Und dann kommt er daher, schmächtig wie der Baum, an dem das Seil hängt. Der Strick für Tarzan, hat Timo noch gegrölt, bevor wir die Parolen abspulten.

Niko fängt neben mir an zu würgen. Ich weiß, es sind die Bilder und die Bilder sind ein Sommer, und dann erträgst du keine Sommer mehr. Und jetzt sitzt uns die Sonne im Genick und wir hinter dem Sarg, würgend, und Leute mit Blicken, die auf uns herabfallen. Aber die gleichen Parolen auf den Lippen, die Leute mit den herabfallenden Blicken.

Keiner glaubt den Scheiß, aber wenn du nichts zu reden und nichts zu denken hast, dann reden alle das Gleiche. Und wir mit der Hitze in den Schädeln und den Parolen in der Fresse und die Flaschen in der Hand am Dorfteich, tief und dreckig und stinkend vor Langeweile. Niko hat noch gesagt, lass doch, weil er schon zu müd vom Saufen war. Lass doch einfach. Aber wenn es da zum Zugreifen steht, das Abenteuer, auch wenn es nur ein ganz schmächtiges ist, das zu den Parolen passt, die alle immerzu blöken, was machst du da, mit sechzehn, wo doch eh überall nur noch gestorben wird.

Die heiße Luft hängt in unseren Gedanken, wie Morast der Weg zum Friedhof. Wir setzen einen Fuß vor den anderen, aber so klein alles scheint, die Enge hat kein Ende.

Komm Ahmed, hat er gerufen, häng dich ans Seil. Aber Ahmed will nicht. Ich lieg auf dem Boden und lach. Nur Niko sagt, komm, lass einfach, aber lachen tut er auch. Und Timo schwankt besoffen zu Ahmed hin und schubst ihn mit der Flasche. Immer weiter bis zum Teich. Und wir lachen und streichen über unsere kahlen Köpfe. Ahmed sagt, er will heim. Und Niko macht sich noch ein Bier auf, obwohl er schon kaum noch die Augen offen halten kann. Aber sagen tut er nichts mehr.

Wir schlurfen in den Friedhof hinein, die Köpfe nach vorne gezogen, das Schluchzen von Timos Mutter neben uns und die Sonne explodiert in unseren Köpfen.
Was kann man noch tun, sagt Niko plötzlich. Nichts, sag ich, das bleibt. Was weg ist, bleibt.
Und wir trotten vorbei am Grab mit dem Bild des Jungen, dunkel und schmächtig, aber für uns bleibt er für immer am Seil, über dem Teich. Und in seinem Blick schon der Seegrund. Und der Sarg ist das Gesellenstück, immer vor uns her, zieht es an unseren Hälsen. Und Ahmed hält sich fest mit beiden Händen am Strick, während wir besoffen nach Hause schwanken, kein Blick zurück.

„Und du gehst wieder ins Internat?“, fragt Niko. Ich nicke und der Schweiß läuft auf meinem Gesicht. „Aber wenn es doch wie Knast ist?“, will Niko wissen. „Überall ist das jetzt.“, sag ich. Er schaut weg und ich seh wieder das Schwarze unter seinen Fingernägeln.
Einer, der ins Wasser fällt und nicht schwimmen kann, haben sie gesagt. Keiner von uns. Und da ist wenig Schlaf und Untertag. Und die Schritte sind stolpernd und kurz.

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