Dominik Haitz: Eine späte Zeit

5. Platz Putlitzer Preis® 2021

Wolfgang streifte durch die Straßen, tastete sich im Dunkeln an kalten Mauern, an Baumstämmen und Häuserwänden entlang, und schob die Reste seines Lebens in einem Einkaufswagen vor sich her. Er schlief an Seeufern, wo sich Schilfhalme schützend über ihn beugten, oder in verlassenen Möbelfabriken, in denen sein Atem Staub und Sägespäne über den Boden wehte, umhuscht von Mäusen die halb ängstlich, halb neugierig an seinen Fingern und Haaren schnupperten.

So trostlos sein Leben zu sein schien, so unbeirrt genoss er die Welt um ihn herum: Er erfreute sich an warmen Oberflächen, am Rot reifer Äpfel, er erfreute sich am dankbaren Quaken der Frösche, denen er zahlreich über die Autobahn half, und bestaunte die Uniformen und Funkgeräte der Polizisten, die ihn wegen Verkehrsgefährdung festnahmen. Wolfgang verstand nicht, wie andere Menschen nicht das fühlen konnten, was er fühlte, wie sie die Welt so unbeeindruckt an sich vorbeiziehen lassen konnten.

Seinen Geburtstag verbrachte er im Park, er spazierte um den See herum, auf der Suche nach dem Winkel, in dem die Wasseroberfläche das Sonnenlicht am schönsten reflektierte. Er setzte sich auf eine Bank und schrieb auf einen Fetzen Papier seine Verzweiflung ob der vielen Möglichkeiten, die ihm die Welt bot, ob der Einsicht, diese nicht zugleich wahrnehmen zu können, und ob der Ohnmacht, dass ihm in jeder Minute seines Lebens etwas Einzigartiges unwiederbringlich verloren ging. Er beschrieb beide Seiten des Blattes, schrieb zwischen die Zeilen, schrieb mit sanftem Druck quer über das Blatt, und als er sich irgendwann eingestehen musste, dass nun wirklich, wirklich kein Platz mehr sei, da schob sich eine Handfläche in sein Blickfeld.

„Sie schreiben so schön“, sagte die Frau, die wohl schon eine Weile neben ihm saß, und deutete erst auf seinen Stift, dann auf ihre Handfläche. Wolfgang sah sie an, lächelte, verstand und schrieb weiter, und seine Gedanken und Gefühle wurden zu Wörtern und Sätzen auf Annas welker Haut. Und weil er seine Worte nicht verlieren wollte, fasste er sie an ihrer Hand und begleitete sie nach Hause. Er spürte die Blicke der anderen Menschen auf sich, und dabei fühlte er sich stolz und glücklich.

Sie trafen sich von nun an jeden Tag im Park, sie redeten und lachten und beobachteten Kinder, die neongelbe oder magentafarbene Kreidelinien auf das Pflaster malten, sie rubbelten Rubbellose um die Wette oder tranken pastellfarbene Milchshakes. Wolfgang zeigte ihr Dinge hinter den Dingen, er zeigte ihr Welten, wo sie zuvor nur Staub gesehen hatte. Anna zeigte ihm Vogelnester in bröckelnden Mauern, Regenbögen in Ölschlieren oder lachende Gesichter in schwarzen Rauchwolken, und sie zeigte ihm Liebe in den Rinnen seines Körpers.

Sie vergaßen die Zeit, die Monate und Wochentage, und erfanden ihren eigenen Kalender: Dienstag wurde zu Betttag und Mittwoch zu Nackttag. Montag wurde zu Spättag, an dem sie erst mittags aufstanden, um Milch ohne Kaffee zu trinken und Marmelade mit den Fingern zu essen. Donnerstag wurde zu Reimtag, an dem sie gemeinsam für Wolfgang Papier kauften und Anna ihm dabei zusah, wie er Zeile für Zeile, Blatt für Blatt schrieb, und jedes neue Kapitel gefiel ihr besser als das vorherige. Auf Reimtag folgte der Umräumtag, an dem Anna mit Wolfgangs Hilfe das Bücherregal in ihrem Zimmer im Heim mehrmals neu sortierte erst nach den Farben der Einbände, dann nach den Namen der Schriftsteller, dann nach deren Todesarten und nach der Motivation, warum sie geschrieben hatten: Aus Leidenschaft, Geldnot, dem Verlangen nach Ruhm oder aus Liebe. Schließlich wurden die Bücher nach Annas persönlicher Bewertung angeordnet.

Weil sie kein Lieblingsbuch hatte, begann Wolfgang eines für sie zu schreiben. Er schrieb über Annas Hände und warme Parkbänke, über eine fünfte Jahreszeit und zwei Sonnenaufgänge jeden Morgen. Er schrieb immer weiter, und als ihm im Laufe der Nacht das Papier ausging, schrieb er auf ihrem Körper, breitete seine Zeilen auf ihrer Haut aus, schrieb Sätze zwischen Falten und Flecken, auf Finger und Fußsohlen, auf Augenlider und Ellenbogen, schlief ein, wachte auf und schrieb weiter.

***

Ein paar Wochen später, an einem sonnigen Blühtag, als Wolfgang gerade auf dem Weg zu Anna war und lächelnd durch die Straßen ging, sah er den Krankenwagen vor der Eingangstür. Vor Schreck ließ er die frischgepflückten Gänseblümchen aus seinen Händen fallen und fragte den Notarzt, ob etwas Schlimmes passiert sei. Der Arzt sah ihn mitleidig an: Sie habe ein schwaches Herz gehabt, das wäre in ihrem Alter nun einmal nichts Ungewöhnliches, und man habe nichts mehr tun können. Wolfgang stürmte an ihm vorbei, rannte in das Zimmer, stieß die Menschen beiseite und sah Anna regungslos auf dem Bett liegen.

Alles an ihr war vergangen, sogar seine Wörter und Sätze auf ihrem Körper, das Innigste, was sie und ihn verbunden hatte. Er sah überall nach, aber nichts war mehr da, nicht einmal mehr in ihren Kniekehlen, wo er seine geheimsten Verse über Todesangst und Tod versteckt hatte. Seine Seele brach und er spürte kaum noch die Hände, die an ihm zerrten, die Hände von Söhnen und Enkeln, die ihn von Anna wegzogen. Seine Welt schrumpfte und verblasste und Wolfgangs Leben wurde zu einem Dienstag im Februar, an dem Sirenen läuteten und Menschen ihn wegbrachten und eine Metalltür zuschlug und ein kalter Boden auf ihn zu fiel.

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