Johannes Jung: Dünnes Eis

4. Platz Putlitzer Preis® 2021

Am Anfang ist alles ganz einfach gewesen.

Vorräte anlegen, die Schänke füllen, für Spaß sorgen, und zackig ins Homeoffice wechseln.

Hatte also schnell und gründlich eingekauft, bevor diese Idioten alles leerhamstern; sehr schnell sogar, und sehr gründlich: Tiefkühlpizza, Dosenzeugs, Mehl, Nudeln, Reis. Und Klopapier. Klopapier natürlich auch. Davon vielleicht … sogar …. bisschen viel angeschleppt. Kaum was verbraucht, weil irgendwie dann doch … die vielen Nudeln vermutlich, und das Rumsitzen und … na ja … nicht viel gebraucht eben.

Zweitens die Spaßversorgung: Disney plus, Netflix, das WLAN upgraden.

Drittens, ganz ehrlich – das Daheimbleiben ist mir viel lieber gewesen als jeden Tag ins Bürgerbüro zu traben, dieses Herumgenörgel anzuhören, über Wartezeiten, Schutzmasken, Desinfektionsmittel: Die Hände – wie die aussehen! Schlimmer als die Tränensäcke von Mick Jagger! Noch nerviger ist nur noch dieses Heldengetue, diese Dankbarkeit! Immerzu Dankbarkeit! Sonst hat doch auch keine Sau geklatscht, wegen ´nem Reisepass oder Parkausweis, oder sich mit einem bemalten Betttuch vors Fenster gestellt: Danke, dass ihr die Stellung haltet! Die Stellung halten – wie in Stalingrad! Inzwischen sitze ich nur in Boxershorts daheim am Computer, manchmal auch ohne; und weiter schön regelmäßig Gehalt aufs Konto.

Kein Problem also, habe ich gedacht, kein Stress mit Sister C. und ihrer ganzen Seuchennummer.

Aber nach zwei Wochen Heimarbeit haben dann komische Sachen angefangen, Dinge, die ich nie machen wollte: Staubsaugen – unter dem Teppich! Star-Wars anschauen, alle Episoden. Alte Dübellöcher zuschmieren, seit Monaten aufgeschoben. Bücher gelesen. Den Papst im Fernsehen gesehen, beim urbi, und beim orbi. Vormittags stundenlang die langsam vorbeitreibenden Leute beobachtet, die Lieferdienste, die DHL-Lady mit ihren tätowierten Unterschenkeln.

Allerdings kaum noch angerufen, kaum noch geduscht, nur noch lustlos im Netz gesurft, auch auf diesen … na ja, überall eben.

Rausgegangen bin ich irgendwann gar nicht mehr. Wäre auch so geblieben, wenn ich nicht die Badewitz gesehen hätte, ganz zufällig, von der Kaffeemaschine aus. Die steht da unten, die alte Badewitz, im Innenhof, direkt vor dem Becken, ganz gebückt, wie sie halt immer steht, auf den Stock gestützt, steht da und stiert in dieses kleine Wasserloch rein, ein graues, filziges, schlecht gekämmtes Fragezeichen. Steht da zehn Minuten lang, wackelt und zittert so ein bisschen vor sich hin, war ja windig damals, ein kalter, blauer Himmel, Mitte März, dünne Eisschicht auf dem Wasser, und dann fängt die an, mit ihrem Stock in der Brühe rumzustochern. Jetzt, denke ich, jetzt ist es passiert. Jetzt ist sie durch. Total verblödet. Wahrscheinlich haut´s die gleich derart in das Wasserding rein, kopfüber, dass es nur so klatscht. Und ich kann sie dann rausziehen, muss sie rausziehen. Lauert nämlich bestimmt irgendwo einer hinter den Gardinen, der mich beobachtet, so wie ich die Badewitz beobachte. Irgend so ein ranziger Gardinenhocker, der den ganzen Tag aus dem Fenster glotzt und mir sofort was anhängt – unterlassene Hilfeleistung oder so. Ich renne also runter, zur Badewitz hin, immer schön mit Sicherheitsabstand, zweimeterfünfzig mindestens.

Was los ist? Was sie da rumschaffen würde? Schaut sie mich an, mit ihrer AOK-Brille, dick wie Panzerglas, und ganz rot dahinter, und feucht. „Die ist tot,“ jammert sie, mit ihrem weinerlichen Altweiberstimmchen, „die ist tot!“

„Hä?“frage ich, und rücke ein bisschen näher, so auf zweimeterzwanzig, für einen Blick in das Becken. „Tot? Da drinnen?“

Natürlich, das Becken! Das Ding hat irgendwann mal einer der Mieter da aufgestellt, so ein schäbiger, alter Waschkessel, halb in den Boden eingelassen, dann bisschen was rumgepflanzt, kleine Teichrose in die Mitte, die hat die Tina damals, als sie noch … noch meine … damals … bevor sie … na ja, ist eine andere Geschichte.

Seit ein paar Jahren jedenfalls schafft es doch tatsächlich jeden März eine Kröte in diese Pfütze rein, mitten im Innenhof, zwischen den Wohnblocks. Weiß der Teufel, wo die herkommt, quer über die Straßen, oder aus einem Keller irgendwo, dann paddelt sie am Rand herum und quakt ein paar Tage vor sich hin, ziemlich unscheinbar. So´n leises, unscheinbares Krötenquaken eben. Bis jetzt hat sich noch nie eine andere blicken lassen, keine Krötin, kein Kröterich. Keine Ahnung, was da Männchen oder Weibchen ist, bei dem Viehzeug. Bis in den April rein ging das so, mit Platschen und Quaken, und dann, plötzlich, war sie einfach wieder weg.

Aber jetzt steht die Badewitz da, rührt mit ihrem Gehstock im Kessel und dreht mir ihre rotgeheulten Geleeaugen zu.

„Ja“, sage ich also, „die ist tot, klar. Die ist sicher ertrunken, heute Nacht. Konnte nicht mehr rauskommen, zum Luftholen, war ja alles zugefroren.“ Hat bestimmt immer wieder versucht, durch das Eis zu kommen, immer wieder den dicken Krötenkopf dagegen gestoßen, und dann endlich ist sie ganz still auf den Grund gesunken. Aber das sage ich nicht, das denke ich bloß. Alles muss man der zittrigen Badewitz auch nicht in die Gehörgänge blasen. Sonst läuft´s doch noch auf eine Wasserrettung raus.

Die Alte steht immer noch weit vorgebeugt und stiert in den Wasserkessel rein. „Ich hab´ doch nicht mehr raus gehen dürfen, zum Spazierengehen, wegen der Ausgangssperre. Sonst hätte ich doch das Eis kaputt hauen können, mit dem Stock.“

„Ja“, sage ich, während die Badewitz den schlaffen, weißlichen Krötenkörper mit der Spitze durchs Wasser treibt. „Ich werd´ das Vieh dann mal … in die Biotonne …“

Sie schüttelt den Kopf, viel energischer, als ich ihr zugetraut hätte, und deutet zur Seite, wo ein paar verrupfte Forsythien und Narzissen blühen. „Lieber begraben“, sagt sie, „zwischen die Büsche!“

„Okay,“ sage ich, immer noch zweimeterzehn von ihrem grauen Flusselmantel entfernt. „Gut!“

Später bin ich dann noch mal richtig rausgegangen, einkaufen, paar Sachen besorgen. Bisschen was habe ich der Alten einfach vor die Türe gelegt, Nudeln, Reis, Brot. Und Klopapier.

Klar.

Klopapier natürlich auch.

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