Catrin George Ponciano: Dein letzter Augenaufschlag

6. Platz Putlitzer Preis® 2021

Flink und elegant bewegst du dich über den Boden der Ozeane. Dein achtarmiger Fingerspitzentanz wirbelt winzige Sandstürme auf, während du durch die Dunkelheit in der Tiefe stolzierst. Dein Blick wandert aufmerksam umher, das Tintenblau des Meeres ist deine Welt, der Spielplatz deiner selbstverliebten Balz, dein Territorium. Hier lebst du, hier jagst du

Stolpersteine kennst du keine, fühlst du sie schon, bevor du sie siehst, schreitest darüber hinweg. Bizarr schroffes Korallenriff eroberst du leichten Fußes senkrecht aufwärts und abwärts, wie es dir beliebt. Alle Abermillionen Zellen deines Ganzkörpernervenkostüms sind biegsam knorpellos vom Schulp bis zur Spitze deiner Fangarme, die dich pfeilschnell zusammengepresst durch die Wasserwand des Meeres schieben, an Felsen hinauf und herab stelzen, oder blitzartig nach einem Leckerbissen schnappen lassen.

Garnele, Herzmuschel, Seepocke verwöhnen deinen Gaumen in dem schlitzartigen Mund, der sehnig muskulös ist und kräftig zuschnappen kann. Bist du entspannt, schwingen deine Lippen als weiches Schiffchen in deinem Tiefseeantlitz umher, unter einem aufmerksam umherblickenden, schwarz glänzenden Augenpaar. Dein Augenaufschlag lässt die Damen deiner Gattung dahinschmelzen, noch dazu wenn du dich außerdem noch aufrichtest zu deiner graziösen Größe. Eine Fliege am Kragen stünde dir gut. Purpurn funkelst du entlang deiner acht Fangarme, blass perlmuttfarben schimmern deine abertausend Noppen, deinen Kopf trägst du erhaben und lockst mit provokantem Blick deine Angebetete zu dir.

Die Damen-Oktopusse lassen sich nicht lange bitten und fallen dir gleich reihenweise in deine kräftigen, vom Alter gestählten Arme. Seufzen, dass du ihnen deine Gene, deinen Samen schenkst. Und deinen Stolz.

Der Älteste am Kap bist du. Du kennst alle Höhlen und Schluchten. Alle felsige Schlitze und tunnelartige Gruften. Du kennst die Fischer, die dich und deinesgleichen unter strahlend blauem Himmel mit Leckerbissen rund um das Kap in Käfige locken wollen, und die du überlistest mit deinem Tintenstrahl, der das Waser trübt.

Auch die Strömung bei Ebbe, bei Flut, kennst du. Deine Haut ist ein Echolot. Bewegt sich das Meer anders als gewohnt, kribbelt es dich, sobald ein Schwarm Raubfische vorüberschwimmt. Wo du dich dann blitzschnell versteckst, damit keiner der schuppigen Räuber dir einen deiner prächtig wohlgeformten Arme mit seinen Nagezähnchen abreißen kann, weißt du auch.

Du bist verspielt, noch mehr verwöhnt. Angehimmelt wirst du für deinen Mut, den Anglern stets ein Schnippchen zu schlagen, und den leckeren aufgespießten Ködern zu widderstehen. Deshalb liegen dir, du Beau, die Schar der Damen-Oktopusse buchstäblich zu Füßen.

Junge Kraken-Burschen, vom Neid erfüllt, probieren dir dein Terrain abspenstig zu machen. Die jungen Draufgänger forderst du zum Duell, wissend, deine Arme sind kräftiger und länger als ihre, deine Noppen saugen fester, dann beißt du zu, lässt sie in einer Wolke dunkler Tinte husten, bis sich der Duellpartner in einer Höhle einrollt zu einem Knäuel aus Fangarmen, Schulp und verletzter Eitelkeit.

Während deine Konkurrenten sich im Mitleid winden, tanzt du übermütig Tango mit der Brandung. Selbstverliebt schnellst du aus den Wellen empor, saugst dich an den Felsen fest, wirfst dich in Pose, und zelebrierst deinen berüchtigten Augenaufschlag, wohl wissend, die Kraken-Ladies schauen zu, während der Vollmond sein silbriges Licht über den Ozean ausschüttet und der Wind Sonetten dazu singt.

Gib es zu, du Kraken-Gigolo, hundert waren es bestimmt, die du in deiner Gier nach Bewunderung begattet und denen du abertausend Samen geschenkt hast. Woraufhin die Geschwängerten sich in den Schutz überhängender Felsen zurückzogen, weit entfernt von der Schwarmroute der Raubfische, allein gelassen von dir, allein gelassen von allen Kraken. Wo die werdende Mama wochenlang ausharrt, und wartet, bis ihre Babys den Rogen verlassen, den sie mit ihren acht grazilen Armen umarmt, beschützt, und noch weiter wartet sie, bis ihre Babys groß genug sind, um davon zu schwimmen, sie wartet, und stirbt.

Und du, Kraken-Beau am Kap? Du tanzt weiter Tango mit der Brandung, Walzer mit der Gischt, blinzelst mit einem Auge ins Sonnenlicht, das andere bleibt reserviert für das nächste Rendezvous mit der nächsten Kraken-Braut, die dir verzückt zuwinkt, mit dir flirtet und den Eroberer in dir provoziert. Seit Tagen hast du nur Augen für sie. Aber sie ist schneller als du ‑ und entwischt.

Bevor du dich versiehst, tanzt sie auf dem Wellenkamm davon, deine Balz ist zu Ende, und dein Tango mit der Brandung vorbei.

Du hängst in der Luft, deine Arme krümmen sich durch Käfiggitter, zu klein, viel zu klein sind die Maschen, um dich hindurchzuschlängeln, zurück in die Freiheit in dein Element, das Meer.

Dem Fischer, der dich aus dem Käfig zieht, springst du mit deinen acht Armen ins Gesicht, saugst dich mit allen Noppen fest an seinen Wangen, Haaren, Ohren, kneifst ihn in die Nase, spritzt ihm Tinte in die Augen, wehrst dich, bis er dich zur Strecke bringt.

Drei Tage später trägt ein Oberkellner dich auf die Terrasse zu den Gästen an Tisch Sieben, die dort sitzen und Oktopus nach Art des Hauses speisen wollen, mit Ausblick auf deine Heimat, das Kap, und auf den Felsen, auf dem du posiert hast, du Angeber aus der Gischt.

Rot gekocht hat dich der Küchenchef, aus deinen Fingerspitzen Tartar gemacht. Mit gekürzten Tentakeln stehst du drapiert auf dem Teller, beträufelt mit Olivenöl, besprenkelt mit Ingwer und Koriander, bist kein draufgängerischer Kraken-Kavalier mehr, dafür ein Gourmet-Gericht.

Knips!

„Zum Fressen gern!“, steht es unter der Fotografie von dir geschrieben. Ein Porträt von dir, auf weißem Designergeschirr drapiert. Eine Nahaufnahme, mit Augenaufschlag gen blauen Himmel. Und Dutzende Daumen hoch, Herzchen und Kuschelikons von weiblichen Kulinarik-Fans im virtuellen Weltenreich begleiten dein Konterfei auf deiner Reise in den Mund.

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