Sonja Kettenring: Auftanken

4. Platz Putlitzer Preis® 2020

Es war ein Fehler, einfach abzuhauen. Noch nicht mal einen Koffer habe ich gepackt, nichts habe ich dabei. Nur sein Auto. Er hat gesagt, ich könne es nehmen, aber so hat er das bestimmt nicht gemeint. Dass es jetzt auf einem Parkplatz in Bayern steht, fünfhundert Kilometer südlich. Kaputt noch dazu. Ein rotes E ist auf einmal aufgeleuchtet, E wie Error oder Warnhinweis Nummer Zwölf: Nicht weiterfahren – fachmännische Hilfe in Anspruch nehmen. Steht im Benutzerhandbuch.

Vielleicht blinkt in meinem Kopf auch irgendwo ein E auf. 

Als das E auf dem Armaturenbrett aufgetaucht ist, bin ich gerade an einem Getränkemarkt vorbeigefahren. Mal kurz anhalten, habe ich gedacht und auf dem Parkplatz das Handbuch aus dem Handschuhfach geholt. Dabei zwei Zwanzig-Euro-Scheine gefunden, für die Not. So einer ist er, der, von dem ich das Auto habe.

Ich habe die Scheine genommen und bin in den Getränkemarkt gegangen. Und dort, hinter der Kasse, saß der Vinz.

Und jetzt, eine Woche später, steht das Auto noch immer auf dem Parkplatz vor dem Getränkemarkt.

Dass es mich ausgerechnet dorthin geführt hat. Ein Zeichen, denke ich und sehe meine Großmutter den Kopf schütteln. Zeichen, so ein Mumpitz. 

Hallo, hat er gesagt, ich bin der Vinz.

Verena, habe ich geantwortet und er hat gelächelt. Ein Lächeln hat er, du lächelst automatisch zurück. Erzählst ihm von deinem Problem und natürlich weiß er eine Lösung. Sein Kumpel Benno könne das Auto abholen. Der hätte eine Art Autowerkstatt in der Scheune und bekäme das wieder hin.

Ich habe kein Geld, habe ich gesagt.

Geh, passt scho, der Vinz. Und bis es wieder läuft, kommst du einfach zu mir.

Ich bin mitgegangen. Der Vinz ist so einer.

Vor einer Woche war das und Benno hat anscheinend anderes zu tun. Oder der Vinz hat ihm noch gar nichts von dem Auto gesagt. Weil er es gar nicht so schlimm findet, wenn ich noch ein bisschen bleibe.

Dabei hat er doch eine Freundin.

Hat er dir von der Anni erzählt, hat mich der Toni – ein anderer Freund vom Vinz – gefragt, als wir in der Gaststube des Goldenen Adlers gesessen sind. Beim Stammtisch der Bergwacht. Du kommst mit, hat der Vinz gesagt, du brauchst was Anständiges zu essen.

Die Anni, hat der Toni gesagt, sei gerade in Hamburg, beruflich. Eine Karrierefrau, die weiß, was sie will.

Und was will sie?

Der Toni hat gelächelt und zum Vinz hinüber gesehen. Der ist gerade von der Toilette zurückgekommen und an der Tür bei jemandem hängen geblieben, den er kennt. Alle Welt scheint er zu kennen.

Geh, Vreni, hat der Vinz gesagt, als ich ihn später nach der Anni gefragt habe.

Dass er mich ausgerechnet Vreni nennt. Meine Großmutter würde ihm den Mund mit Seife auswaschen, Vreni, also bitte, wo sind wir denn.

In Bayern, Großmutter.

Vielleicht würde der Vinz sogar Großmutter um den Finger wickeln. Er ist so einer.

Gleich am ersten Abend haben wir miteinander geschlafen. Es ist leicht, mit dem Vinz zu schlafen.

Ich kann dir das Sofa zurechtmachen, hat er gesagt. Und dann war da so eine Pause, ein unausgesprochenes Oder.

Oder?, habe ich gefragt und er ist näher gekommen, so langsam, dass ich alle Zeit der Welt gehabt hätte, mich umzudrehen, zur Tür hinauszugehen oder wenigstens „Du spinnst ja wohl“ zu sagen. Aber nichts davon habe ich getan, ich bin stehengeblieben, habe nichts gesagt und zack, hat er mich geküsst.

Der Vinz fragt nicht, was ich vorhabe, wie viel Zeit ich habe, warum ich eigentlich hier bin, was denn passiert sei. Irgendetwas muss doch passiert sein, wer geht schon ohne frische Unterhosen auf Reisen.

Dann bringt der Benno das Auto. Da war nichts, sagt er.

Wie, nichts, fragt der Vinz.

Benno zuckt mit den Schultern. Es ist auf Anhieb angesprungen, sagt er. Und einen Fehler hat es auch nicht angezeigt.

Die beiden sehen zu mir, jetzt bin ich es, die mit den Schultern zuckt. Ein rotes, blinkendes E, sage ich. Benutzerhandbuch Seite fünfzehn.

Benno hält mir den Autoschlüssel hin und sagt, dass er Öl aufgefüllt habe.

Danke, sage ich.

Magst ein Bier?, fragt der Vinz und Benno nickt.

Ich gehe nach draußen, setze mich ins Auto und denke an ihn, den Autobesitzer. Mit ihm war noch nie etwas leicht. Die Studentin und der verheiratete Professor. Ein Fehler. 

Ich sitze noch immer im Auto, als Benno längst wieder weg ist, sich der Vinz neben die offene Tür stellt, immer noch oder schon wieder mit einer Flasche Bier in der Hand. Er hält sie mir hin und ich trinke einen Schluck.

Fährst jetzt wieder nach Hause, fragt er.

Nach Hause, denke ich und sehe Großmutter vor mir, wie sie den Kopf schüttelt. Verena!, wird sie sagen und alles in dieses Wort hineinlegen.

Ein Fehler.

Oder bleibst hier, sagt der Vinz.

Ich trinke noch einen Schluck Bier.

Der Tank ist fast leer, sage ich. Besonders weit würde ich nicht kommen.

Er lacht mich aus, sagt, dass ich rüber rutschen soll.

Wohin fahren wir, frage ich, als er sich auf den Fahrersitz setzt und das Auto startet.

Na, zur Tankstelle.

Dort füllt er den Tank, plaudert mit der Kassiererin und drückt mir dann die Autoschlüsseln in die Hand.

Scheiß da nix, dann feit da nix, sagt er.

Wie bitte, frage ich, aber er sieht mich nur an. Greift durchs offene Fenster und ich denke, er küsst mich, aber nein, er nimmt sich nur das Bier.

Weißt ja, wo du mich findest, sagt er und geht davon.

Und ich sehe ihm nach, bis hinter mir jemand hupt.

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