Wenzel Michalk: Der Malermeister

2. Platz Putlitzer Preis® 2021

„Bring mir noch etwas von dem Azur! Die eine Stelle hier leuchtet noch nicht richtig.“

Abel zögerte. „Meister Aken, es ist kaum noch etwas übrig. Wir sollten abwarten, ob es sich nicht erholt. Unter den Leuten gibt es bereits Gerüchte über ein nahendes Unheil.“

„Die Leute! Die Leute!“, rief der Meister und fuchtelte mit seinem Pinsel in Abels Richtung. Im Kerzenschein sah der Geselle etwas Farbe auf die fleckigen Holzdielen spritzen. Bei diesem Anblick wurde ihm schlecht. „Die Leute wollen unterhalten werden. Sie wollen Bilder! Echte Bilder! Und die verspricht ihnen mein Name. Bring mir die Farbe!“

Vorsichtig schritt der Junge um die riesige Leinwand herum und betrachtete das fast fertige Bild. Wie jedes Mal, wenn er ein Gemälde aus der Hand des Meisters ansah, hielt er kurz den Atem an. Er hatte nicht den Eindruck, etwas Gemaltes zu betrachten, vielmehr schien es, als blicke er durch ein großes Fenster, das sich in eine Welt hinter der Werkstatt öffnete und den dunklen Raum erleuchtete: Ein Mann stand dort, den Rücken zum Betrachter, auf einem von Bergen umrahmten Felsvorsprung und blickte hinunter in ein Tal, in dessen Mitte ein Fluss sich in Richtung Horizont in den schönsten Frühlingsmorgen entfernte.

Wirklicher als die Welt. Und vielleicht so, wie sie sein sollte, dachte Abel. Er entdeckte die Stelle im Himmel, von der der Meister gesprochen hatte. Sie wäre ihm kaum aufgefallen, wenn er nicht gewusst hätte, wonach er suchen musste.

„Wird’s bald? Ich bezahle dich nicht fürs Maulaffen feilhalten!“

„Meister Aken“, er schluckte, machte sich Mut, „lasst diesen Fleck eine Wolke sein. Ein Gewitterwölkchen vielleicht, das den Wandertag zu trüben vermag.“

Der alte Mann ließ den Blick ein paar Mal zwischen der Leinwand und dem Gesellen hin und her schnellen. Er nuckelte an seinem Pinsel, an der Spitze, wie er es immer tat, und gefärbter Speichel sickerte in seinen bis über den Bauch reichenden Bart, auf dem die Farbspucke einen großen, dunklen Fleck hinterlassen hatte. Nur an den ausgefransten Rändern waren die weißen Barthaare noch von bunten Klecksen durchsetzt. „Nein! Das Kunstwerk bleibt so wie es ist.“

„Aber wir sollten –“

„Wir? WIR? Ich bin hier der Meister!“, brüllte der alte Mann. „Du sollst lernen, nicht faseln. Und jetzt bring mir die verdammte Farbe!“

Abel zuckte zurück und wandte sich um. Über die Schulter warf er einen vorsichtigen Blick auf den Meister, der wieder an Haar und Zwinge saugte und gedankenverloren sein Gemälde betrachtete. Dann ergriff der Geselle eine Palette und einen großen Pinsel und bahnte sich einen Weg zur Tür. Die Werkstatt war düster und überall standen Staffeleien und Leinwände, manche leer, manche begonnen, fertige Bilder gab es glücklicherweise nicht. Ihre Schatten wirkten im milden Kerzenlicht fast menschlich und tanzten hexenhaft um ihn herum.

Er trat nach draußen in gleißendes Sonnenlicht. Die Werkstatt lag, umringt von Bäumen und Hecken, auf einem weitläufigen Grundstück am Stadtrand. Verkehr hörte Abel keinen, nur eine Taube gurrte, und es ging eine leichte Sommerbrise. Er wandte den Blick nach oben in den wolkenlosen, aber viel zu dunklen Himmel und streckte den Arm aus. Dann hielt er inne. Nach einer Weile ließ er den Pinsel unverrichteter Dinge sinken und trottete zurück ins Haus.

„Endlich!“, rief der Meister, als Abel wieder eintrat. „Gib schon her!“ Der hutzelige Mann eilte herbei und riss ihm die Palette aus der Hand. Er wollte sogleich den Pinsel eintauchen, doch erstarrte er beim Anblick der leeren Scheibe. „Was zum –?“

„Es war nicht möglich … Es ist mal wieder bewölkt –“, stammelte der Geselle.

„Lügner!“, schrie der Meister. „Die Wetterfrösche sangen von einem Sonnentag!“  Klatsch! Er verpasste Abel eine fürchterliche Ohrfeige, sodass dieser zu Boden stürzte. Im nächsten Moment sprang er zum Fenster und stieß die Läden auf. Licht flutete herein und ein paar Skizzenblätter flatterten, als ein Luftzug durch die Werkstatt fegte. „Ha-ha-haaa“, gackerte Meister Aken. „Prächtig! Prächtig!“

Wie kann er es nicht sehen?, dachte Abel. Wie kann er es denn nur nicht sehen? Er ist längst nicht mehr so blau wie auf seinen Bildern. Der Geselle wollte eine Warnung rufen, den Meister aufhalten, doch er rührte sich nicht und starrte nur zum Fenster, eine Hand auf der heißen Wange. Mit klingelnden Ohren beobachtete er, wie sich der dürre Greis aus dem Fenster lehnte und den knochigen Arm gen Himmel reckte. Nur vage konnte er die kleine Bewegung aus dem Handgelenk des Meisters erkennen, mit der dieser die letzte Farbe vom Himmel kratzte.

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