Marie Kaschke: Maddox

1. Platz Putlitzer Preis® 2021

Mein Name ist Maddox und ich bin ein diagnostizierter Taugenichts. Das sagte Vater, damals, als der Kinderarzt vermutete, dass ich unter einer Entwicklungsstörung leide. Er nannte den Arzt auch einen gierigen Halsabschneider. Seitdem war ich nicht mehr beim Doktor, denn es wäre eine anatomische Katastrophe meinen Hals zu verlieren.

Als diagnostizierter Taugenichts habe ich es nicht leicht. Soziale Strukturen sind mir fremd und manchmal neige ich zu stereotyp ablaufenden Verhaltensweisen. Jede Veränderung, wie die falsche Zusammensetzung meiner Frühstücksflocken beunruhigt mich.

„Da sind Gojibeeren im Müsli!“, beschwere ich mich bei Mutter, die in Unterwäsche und mit Lockenwicklern auf dem Kopf durch die Küche spurtet.

„Goji-was?“, fragt Mutter zerstreut, während sie eine Tasse Kaffee in Rekordzeit hinunterkippt.

„Du wirst an dem Zeug nicht ersticken!“, mischt sich Vater ein und wirft mir einen mahnenden Blick über den Rand seiner Tageszeitung zu.

„Entspricht der Nährstoffgehalt denn meinem Ernährungsprofil?“

Vater und Mutter tauschen einen vielsagenden Blick.

„Ganz bestimmt, mein Schatz“, verspricht Mutter, streicht mir über den Kopf und flüchtet mit der Kaffeekanne in den Armen aus der Küche. Vater ist wieder hinter seiner Zeitung verschwunden. Unentschlossen sitze ich vor dem Müsli, nicht sicher, ob ich meinen empfindlichen Verdauungstrakt mit dem Superfood belasten will.

Mit spitzen Fingern angle ich eine Beere aus der Frühstücksschale und halte sie meinem Hund Pi hin. Dessen Nasenflügel beben empört, bevor er den Kopf in eine andere Richtung dreht. Mein Blick bleibt an einer Dose mit Brei aus totem Lamm ‑ Vater nennt es Leberwurst ‑ hängen. Testweise tauche ich eine Gojibeere hinein und versuche es erneut. Schwuppdiwupp, findet die Beere den Weg in Pis Magen. Auf Pi ist eben Verlass, nicht umsonst habe ich ihm dem Namen einer mathematischen Konstante gegeben.

„Geht doch, Maddox, wirst vielleicht doch irgendwann normal“, meint Vater, als er siebzehn Gojibeeren später seine Zeitung sinken lässt. Als Mutters Schritte auf der Treppe ertönen, wirft er sich Hemd und Sakko über, bevor er mir ein identisches Ensemble überstülpt.

„Siehst gut aus Junge“, lobt Vater. „Deine Oma wird sich freuen, dich zu sehen.“

Sieben Minuten und neununddreißig Sekunden später sitzen wir in unserem VW Caddy.

„Stopp!“, brülle ich als Vater den Motor anlässt. „Ich habe die Bremsleuchten vergessen.“

„Zum Teufel –“. knurrt Vater und schlägt gegen das Lenkrad. „Mach hinne, Bengel -“

Sofort springe ich aus dem Wagen und positioniere mich am Heck. Ich verstehe, dass Vater wütend ist, immerhin hätte uns meine Nachlässigkeit in Gefahr bringen können.

„Links?“ Vater streckt seinen Kopf aus dem Seitenfenster.

„Check!“

„Rechts?“

„Check!“ Zufrieden steige ich wieder ins Auto. Diesmal saust Vater vom Hof, bevor ich es schaffe ihn nach dem Ölstand zu fragen. Also drücke ich meine Nase an der Scheibe platt, um mir die Lastwagen auf der A24 anzuschauen.

„Maddox?“ Mutter beugt sich zu mir. Sie hat ihre Haare zu einem wilden Nest aufgetürmt. Es wäre der ideale Brutplatz für einen Ploceus Velatus, dem sogenannten Maskenweber, der bekannt für seine kugelförmigen Nester ist. „Versprichst du, dich zu benehmen?“

„Selbstverständlich, Mutter.“ Es wäre doch gelacht, wenn ich mich nicht benehmen kann. Immerhin habe ich einen Intelligenzquotienten von Einhundertfünfunddreißig und erst kürzlich den Knigge gelesen.

„Versprich deiner Mutter nicht das Blaue vom Himmel“, braust Vater auf.

„Aber ich habe ihr doch nichts Blaues versprochen!“

Bedrücktes Schweigen.

Zwei Stunden, dreiunddreißig Minuten und fünfzehn Sekunden später erreichen wir Großmutters Grundstück. Am Zaun hängen goldene Luftballons und aus einem hexagonförmigen Festzelt dringt Schlagermusik und das Geplapper alter Menschen. Großmutter trägt ein champagnerfarbenes Kleid und einen Federhut auf dem Kopf, an dem der Ploceus Velatus Gefallen gefunden hätte.

„Herzlichen Glückwunsch, Oma. Statistisch gesehen bist du schon seit drei Jahren tot.“

„Herzallerliebst, der kleine Maddox!“ Oma kneift mich in die Wange. Interessiert sie sich für den Zustand meiner Backenzähne? Ich reiße den Mund auf. Vater knirscht mit den Zähnen. Ob Zahnärzte auch Halsabschneider sind?

Als Oma von mir ablässt, plündern wir das Kuchenbuffet und nehmen im Festzelt Platz. Sorgsam trenne ich die Schichten meiner Schwarzwälder Kirschtorte voneinander, was nicht unbemerkt bleibt.

„Als Kind habe ich auch immer alle Schichten getrennt gegessen!“, bemerkt eine alte Dame. „So schmeckt man jede Komponente!“

Überrascht hebe ich den Kopf.

„Ich liebe Bienenstich“, schwärmt sie.

„Wegen der Bienen oder der Stiche?“

Die alte Dame lacht. Mutter stupst mich warnend in die Seite.

„Wie alt bist du denn, junger Mann?“

„Neun-Komma-Zwei-Sechs-Vier Jahre alt“, antworte ich.

Vaters Kaffeetasse klirrt bedrohlich. Er mag es nicht, wenn ich die Nachkommastellen nenne. Ein normaler Junge macht das nicht, hat er gesagt.

„Du bist aber ein schlaues Kerlchen.“ Die alte Dame scheint entzückt.

„Ich habe einen Intelligenzquotienten von Einhundertfünfunddreißig.“

„Ist das denn viel?“

„Vater nennt mich einen Klugscheißer.“

„Maddox!“, donnert Vater. „Willst du nicht rausgehen, um zu spielen?“

Ich will nicht, doch die Drohung in seinen Worten ist mir nicht entgangen. Ich springe auf und renne aus dem Zelt, halte erst an, als ich Omas Schaukel erreicht habe. Vorsichtig wippe ich auf und nieder. Die Seile machen einen stabilen Eindruck. Ich beginne zu schwingen ‑ immer im gleichen Takt. Wie wäre es, wenn ich einen Überschlag machen könnte? Das wäre ein physikalisches Wunder, doch der Gedanke gefällt mir.

Mit jedem Schwung wehen meine Haare im Wind, ich lege den Kopf in den Nacken und sehe nichts als den azurfarbenen Himmel über meinem Kopf. Immer höher schwinge ich, denke daran, wie es wäre, das Blaue vom Himmel zu holen und es nicht nur zu versprechen. Als ich den höchsten Punkt erreiche drücke ich mich von der Schaukel ab, mit aller Kraft, fliege mit gestreckter Hand empor wie Superman ‑ auch wenn es den nicht gibt ‑ und greife ins Nichts.

Als ich unversehrt im Gras lande ertönt ein spitzer Schrei. Vater und Mutter kommen über die Wiese auf mich zugelaufen.

„Hast du dir weh getan?“

„Junge, was hast du dir dabei gedacht?“

„Ich habe das Blaue vom Himmel geholt!“ Stolz öffne ich meine Hand und bin sicher, wäre unsere Sehkraft nicht eingeschränkt, wir hätten blaue Moleküle zu Boden fallen gesehen.

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