Finlay Weber: Da draußen stirbt eine Szene

5. Platz Putlitzer Preis® 2020

An den Wänden hingen Tour-Plakate von Bands, die vor etlichen Jahren in diesem Schuppen gespielt hatten. Größtenteils waren es legendäre Punkcombos, die sich hierher verirrt hatten, aber auch Rockbands aller Subgenres. Die Plakate hingen dort wohl als Beweise für den Glanz einer vergangenen Zeit. Vergilbte, an Beton geleimte Nostalgie.

Ich liebte diesen ranzigen Laden, seit ich vor etwa drei Jahren zum ersten Mal hierher gekommen war – damals hatte mich meine große Schwester mitgeschleppt; eine College-Punkband hatte gespielt, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnerte, und ich war mit einem Lächeln, einem verstauchten Finger und massenhaft Prellungen nach Hause gestolpert.

In wenigen Minuten sollte die Vorband die Bühne betreten. Ich drehte mich um und sah kaum mehr als eine Handvoll Leute, die allesamt Plastikbecher mit wahrscheinlich alkoholfreiem Bier in den Händen hielten und irgendwie versteinert wirkten. Als wären es dieselben Leute, die sich schon vor zwanzig Jahren hier herumgetrieben hatten und die langsam wagten, erste Anzeichen von Ermüdung offenkundig zur Schau zu stellen. Wo war die Verstärkung? Für jeden, der ging, kam einer, der zuhause blieb …

Mein Handy vibrierte. Ich griff in meine Tasche, fischte es heraus und öffnete die Nachricht. Sie kam von Kevin, meinem besten Kumpel. Ich gehe heute mit Milfhunter666 in den Feuerdungeon. Schade, dass du das verpasst, schrieb er, und ein bisschen bemitleidete ich ihn, wenn ich meine beiden Möglichkeiten für den Abend auf die Waagschale legte. Weil ich absolut gar nichts verpasste und weil ich nie etwas verpasste, wenn ich etwas ohne ihn unternahm.

Milfhunter666 war, anders als der Name vermuten ließ, ein Mädchen – wahrscheinlich das einzige Mädchen, mit dem Kevin bisher mehr als fünf Worte gewechselt hatte. Ich hätte mich ja für ihn gefreut, wenn sie nicht am anderen Ende des Landes leben und sein einziger weiblicher Kontakt sein würde.

Ich steckte mein Handy weg und schlenderte, aufgrund der Leere ganz ohne Gedränge, zur Theke und bestellte mir Whisky-Cola. Neben mich trat ein Mädchen, bestellte ein Bier und lächelte mich an. Sie hatte langes schwarzes Haar, trug ein Shirt mit dem Aufdruck einer Emocore-Band und schwarz-weiß geringelte Armstulpen. Sie sah aus, als wäre sie aus der Zeit gefallen, und das gefiel mir. Ihr wohl auch.

»Bist du allein hier?«, fragte sie und nippte an ihrem Bier.

Ich nickte und sagte: »Mein einziger Freund muss heute einen Dungeon plündern …«

Sie lachte. »Stimmt, heute gibt‘s da ja dieses Event. Aber das geht doch bis übermorgen.« Sie war anscheinend nicht nur ebenfalls Gamerin, sondern auch bestens informiert. Und … sie war hier. »Er scheint ein hoffnungsloser Fall zu sein, was?«

Ich ließ ihre Frage unbeantwortet, weil sie keiner Antwort bedurfte, schaute mich um und hatte schnell alle Anwesenden gescannt. Keiner von ihnen schien zu ihr zu gehören. Sie bemerkte meinen Blick und sagte: »Bekenne mich ebenfalls schuldig.« Dann wandte sie sich ab, und im Gehen sagte sie: »Wir sehen uns gleich auf der Tanzfläche!«

Ich trank einen weiteren Schluck und überlegte, ob und was ich Kevin antworten sollte. Stundenlang hatte ich versucht, ihn zu überreden, und war dann schließlich allein los gestiefelt. Er war mein bester Freund und super zum gemeinsamen Zocken, aber kein besonders toller Beistand im richtigen Leben, hier draußen vor der Tür.

Im Laufe der letzten drei Jahre war das Publikum in dieser Location stetig geschrumpft, sofern eine Band mit richtigen Instrumenten auftrat. Kaum ein Genre-Song in den Charts, ganz anders als noch ein paar Jahre zuvor; wegfallende Festivals, abgesagte Clubtouren: War Rock wirklich so tot? Hatten sich seine Subgenres gegenseitig gefressen und ihre Überlebenden zu Überläufern gemacht? Waren geschlossene Bewegungen überflüssig geworden? Oder lag es an Leuten wie Kevin, die noch nicht einmal dann zum Konzert gingen, wenn eine Band in die Stadt kam, deren Songs in der Playlist zuhause rauf und runter liefen?

Ich zog mein Handy aus der Tasche und schrieb etwas verärgert: Geh ruhig in den Dungeon und töte den Drachen, aber hier draußen stirbt eine Szene!

Das war pathetisch, zugegeben, fühlte sich aber richtig und gut an. Wenn etwas stirbt, das einem am Herzen liegt, dann ist es gut, Schuldige in greifbarer Nähe zu finden.

Nach drei weiteren Schlücken aus meinem Becher und einem Soundcheck wurde das Licht abgedunkelt. Es ging los. Mittlerweile mochten es an die fünfzig Leute im noch immer ziemlich leeren Saal sein. Von der Vorband T-ERROR hatte wahrscheinlich noch niemand hier gehört, und als die Band zu spielen begann, hatte ich den Eindruck, dass nicht mal die Musiker selbst ihre Lieder besonders gut kannten. Vielleicht waren sie auch einfach betrunken – und vielleicht war das hier nicht der erste halbleere Saal, in dem sie auf der Tour als Support spielten.

Trotzdem gefiel mir der Sound; ihre Musik klang wie ein verrotzter Bastard aus Pop-Punk und Trance-Core. Ein paar der Anwesenden wippten mit dem Fuß auf und ab, blieben aber – wie ich – am Rand stehen und ließen den Platz vor der Bühne frei für spätere, vielleicht nie kommende Augenblicke. Sie blieben Zuschauer, waren nicht involviert und doch immerhin mit dabei.

Plötzlich spürte ich ein starkes Zerren an meinem Arm. Mein restlicher Whisky schwappte über, ich ließ den Becher fallen, und als ich meinen Blick wieder hob, hüpften und schlingerten wir auch schon zu zweit, Hand in Hand vor der vereinsamten Bühne umher.

»Freut mich übrigens, dich kennenzulernen!«, schrie sie mir ins Ohr, und als ihre Stulpen runterrutschten, zog sie sie aus und warf sie einfach irgendwo neben sich.

Mit einem Mal war es mir egal, dass der Raum nahezu leer und die Szene scheintot war, das hier fühlte sich nämlich ziemlich lebendig an. Und als der Sänger zu einem weiteren Schrei ausholte, da schrien auch wir, wir schrien einfach irgendwas, und doch war es richtig. So verdammt richtig.

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