Anne Riegler: Der Irrtum

2. Platz Putlitzer Preis® 2020

Herr Engelbert Heppelwetz hatte sich geirrt. Deshalb musste nun das Ende kommen, und zwar schnell. Sein Ende. Das Irren an sich ist keine große Sache. Mal den Arzttermin vergessen, das Paket nicht abgeholt, die Eier zwanzig Minuten gekocht, im Datum geirrt. Wirklich keine große Sache. Passiert jeden Tag tausendfach, millionenfach. Den wievielten haben wir heute? Den fünften oder den sechsten?

Herr Heppelwetz, was unternehmen Sie morgen? ‑ Ach richtig, morgen ist ja Feiertag, das hatte ich vergessen, hatte die Blumenverkäuferin am zweiten Oktober zu ihm gesagt, als er einen Topf Chrysanthemen für seine Frau gekauft hatte. Den wollte er ihr am fünften hinstellen.

Später im Bus hatte ihn an der Abzweigung in die Virchow-Straße eine junge Frau gefragt, ob diese Linie denn nicht zum Peterplatz fahre? Nein, die Drei sei noch nie zum Peterplatz gefahren, da habe sie sich geirrt und müsse an der übernächsten Station aussteigen und die Sieben nehmen.

Herr Engelbert Heppelwetz stand am Abgrund, sehr nahe. Der alte Kalksteinbruch verwilderte seit Jahren, zwölf Jahren und einem Viertel, um genau zu sein. Unten stand an einigen Stellen das Wasser so tief, dass im Sommer Jugendliche zum Baden herkamen, obwohl es verboten war. Der Maschendrahtzaun war trotzdem nie erneuert worden, die Warnschilder ausgeblichen, zerstört oder gestohlen. Hin und wieder fiel jemand hinunter, meist absichtlich, aber davon hörte man immer nur inoffiziell, so was steht nicht in der Zeitung. Also würde er vermutlich auch nicht in der Zeitung stehen.

Dabei hatte er erst heute Morgen eine einwandfreie Uhr gezeichnet. Eine halbe Stunde Radio hören, aufstehen, Kaffee, Brot mit Konfitüre essen und dazu die Zeitung lesen, Abreißkalender aktualisieren, Uhr zeichnen. Es war heute neun Uhr und vier Minuten gewesen. Er hatte ein bisschen radiert. Aus Versehen hatte er erst den Minutenzeiger kurz vor die Neun gemacht, statt kurz dahinter. Aber das war ihm fast sofort aufgefallen.

Mit der Zeitung hatte es angefangen bei seinem Großvater.

Engelskind, hol‘ mir die Zeitung, dann gibt’s ein Zuckerli!

Aber Opa, ich habe dir die Zeitung schon gebracht.

Engelskind, bring mir doch die Zeitung!

Engelbert Engelskind brachte die Zeitung von gestern und holte sich ein zweites Zuckerli. Manchmal auch ein drittes. Da war Opa Heppelwetz gerade vierundsiebzig geworden.

Mit der Zeitung hatte es auch angefangen bei seinem Vater, da war er fünfundsiebzig.

Berti, die Zeitung!

Kein Zuckerli, aber ein braver Junge sein. Die Zeitung liegt vor dir, Vater.

Das ist doch die von gestern, Berti!

Nein, Vati, ist von heute.

Der Großvater lebte noch zehn Jahre, seine Frau noch zwanzig, aber zwanzig schlechte, denn zehn mit Pflege vom Großvater und danach zehn, auch mit Pflege, im Heim.

Der Vater lebte noch dreizehn Jahre, seine Frau dreizehn schlechte Jahre und sechs schlechte Monate.

Herr Engelbert Heppelwetz hatte keine Frau mehr. Er ging halbjährlich zur Vorsorgeuntersuchung. Aber es konnte schneller gehen. Also zeichnete er Uhren. Heute Morgen war seine Uhr in Ordnung gewesen. Nur der Minutenzeiger war etwas verrutscht. Keine große Sache, auch andere Leute irren sich. Aber das mit dem Datum. Nach dem Frühstück hatte er das Blatt vom Abreißkalender zusammen mit der Uhr in den Papierkorb geworfen, ohne den Kalender zu beachten. Dann war er spazieren gegangen. Nach dem Mittagessen hatte er es gesehen. Heute war der sechste Oktober. Nicht der fünfte, sondern der sechste. Und morgen war sein sechsundsiebzigster Geburtstag. Das konnte kein Zufall sein.

Herr Engelbert Heppelwetz hielt sich an einem dünnen Stämmchen fest und trat ganz nach vorne an die Kante. Zwanzig Meter waren es mindestens bis zum hellen Grund. Das Wasser war weiter hinten. Zur Probe streckte er einen Fuß in die Luft. Er taumelte leicht, krallte sich am dünnen Stämmchen fest, es bog sich. Eine Test-Uhr konnte nicht schaden.

Vorsichtig tastete sich Herr Heppelwetz rückwärts die leicht ansteigende Böschung hinauf und ließ sich in sicherer Entfernung zu Boden sinken. Er zog Papier und Bleistift aus der Jackentasche und versuchte sich ‑ mit seinem Knie als Schreibunterlage ‑ an einem Kreis. Die beiden Enden trafen sich nicht. Der Bleistift fiel im aus der Hand. Seine Finger zitterten zu stark. Auch andere Menschen haben schon Eier zu lange gekocht und das Paket nicht abgeholt. Eins vom Nachbarn lag einmal zwei Monate bei ihm.

Aber den Todestag vergessen, keine Chrysanthemen, das passiert nicht so einfach. Man vergisst auch nicht seinen Geburtstag oder Weihnachten. Den fünften Oktober hatte Herr Heppelwetz seit acht Jahren nie vergessen. Am vierten hatte er beim Einschlafen noch daran gedacht. Radio hören, Frühstücken, Uhr zeichnen, Chrysanthemen. Aber jetzt war plötzlich der sechste Oktober, und die Chrysanthemen standen noch immer im Flur in ihrem Übertopf.

Der feige Herr Engelbert Heppelwetz ging nach Hause. Morgen würde er sechsundsiebzig. Es wurde Zeit. Bald würde er vergessen, das Radio abzustellen, und die Konfitüre auf die Zeitung schmieren. Bis man ihn ins Heim bringen würde, und dort würde er vegetieren, bis er stirbt. Ohne Besuch, ohne Orientierung, ohne Würde, ohne Identität. So war das in seiner Familie. Er war zu feige.

Herr Engelbert Heppelwetz nahm die Zitter-Uhr und warf sie in den Papierkorb voller Uhren. Zu oberst lag der vierte Oktober. Das Kalenderbild zeigte einen orangenen Riesenkürbis. Er konnte sich nicht an das Bild vom fünften Oktober erinnern. Am dritten war es ein Apfelbaum gewesen und am zweiten ein Herbstwald. Wütend leerte Herr Heppelwetz den Weidenkorb im Flur auf den schwarz-weißen Fliesenboden. War das schon der Trotz des schleichenden Vergessens? Er sortierte: sechs Tageszeitungen, eine Fernsehzeitung, einige Verpackungskartons, acht Uhren. Kalenderblätter vom 29. September bis zum vierten Oktober. Der fünfte Oktober fehlte. Hatte er ihn in den Küchenschrank oder die Waschmaschine gelegt? Herr Heppelwetz erinnerte sich nicht. Er nahm das Blatt vom vierten Oktober und konzentrierte sich. Oben am Rand des Blattes hing ein milchiger Streifen der Klebegummierung. Der Griff seiner Finger wurde fester. Er kämpfte gegen den Drang, das Blatt mit dem Kürbis zu zerknüllen.

Da teilte sich das Blatt auf einmal und gab den fünften Oktober frei. Die milchige Klebegummierung hatte den fünften Oktober vom Kalender mit abgerissen.

Herr Engelbert Heppelwetz lachte den Schrei der Erleichterung. Er löste den fünften Oktober behutsam vom vierten, um das Kalenderbild zu sehen. Es zeigte Chrysanthemen.

Teilen: