1. Platz Putlitzer Preis® 2020
Meine Freunde nennen mich Error. Seit mein betrunkener Vater mal zu mir gesagt hat, ich wäre ein Fehler, hatte ich diesen Namen. Ich beschwerte mich nicht. Ich war nie jemand, der sich lange beschwert, das verschwendet nur Energie. Und warum sollte ich auf meinen Vater sauer sein, wenn ich doch gleich in der Wohnung unter uns einen viel besseren Vater gefunden hatte. Sein Name war Sheepdog. Das war natürlich nicht sein richtiger Name, aber seinen richtigen Namen hatte er mir nicht genannt. Ich traf ihn eines Tages, als ich auf seine Terrasse kletterte. Meine Zimmertür hatte mein Vater abgesperrt und deshalb stieg ich aus dem Fenster. Wir wohnten im zweiten Stock, viel zu hoch um zu springen. Also hangelte ich mich zuerst auf den Balkon unter uns. Dummerweise landete ich auf einem Blumentopf, der scheppernd umfiel und mich verriet. Kurz darauf ging die Terrassentür auf und Sheepdog stand im Türrahmen. „Du bist doch das Balg von oben! Was wird das hier? Ein Einbruch?“ Ich schwieg. Teilweise, weil ich Angst hatte und teilweise, weil ich nicht wollte, dass mein Vater mich zufällig oben hörte. „Was ist los? Bist du stumm?“ Ich schüttelte den Kopf. „Was ist dann mit dir los?“ Ich deutete nach oben. „Was willst du mir sagen?“ In diesem Moment kam ein lauter Schrei von oben. „Verdammtes Arschloch! Er ist abgehauen!“ Ich zuckte zusammen. Nur ganz leicht, ich wollte nicht schwach aussehen vor dem Nachbarn. Der schaute inzwischen an die Decke seiner Terrasse, dann wieder auf mich. „Komm rein“, sagte er nur und ging mir voraus zurück in die Wohnung. Drinnen lief der Fernseher. Eine junge Frau lag davor auf dem Bauch und schaute sich Musikvideos an. Als ich reinkam, drehte sie sich um. „Oh, Besuch!“ sagte sie mit einer überschwänglichen Stimme. Sie war sehr stark geschminkt und roch nach einem ganzen Blumenfeld. Sie kaute ein Kaugummi und ihr Lächeln zeigte einen kleinen Glitzerstein, der auf ihren Zähnen klebte. Das war Day Snack, wie ich später herausfinden sollte. Auch das war nicht ihr richtiger Name, aber sie nannte sich immer so. Sheepdog nannte sie immer seine Freundin, aber sie lebten nicht zusammen und Day Snack sagte immer nur: „Er ist ein ganz besonderer Kunde.“ Sie hat mir einmal versprochen, mir die Geschichte zu erzählen, wie Sheepdog ihr das Leben gerettet hatte, aber dazu kam es nie.
Als ich sie damals zum ersten Mal sah, mit ihrer grellen Stimme und ihrem verschmitzten Lächeln, fand ich sie direkt sympathisch. „Wer ist denn dein kleiner Freund, Dog?“ „Das ist das Balg von oben.“ „Und hat der gute Mann auch einen Namen?“ „Error“, sagte ich. Ich wollte selbstsicher klingen, doch es kam nur eine schwache Stimme heraus. „Error? Du meinst wie im Computer? Süßer Name, Kleiner. Sag mal Dog, was macht dieses Nachbarskind bei dir?“ Sie drehte sich auf die Seite, stütze ihre Hand auf das Sofa und ihren Kopf auf die Hand. „Er versteckt sich vor seinen Eltern.“ „Ach nein, wie dramatisch. Das ist ja fast wie in diesem Film, wie hieß der noch? ´Kevin allein zu Haus´! Kennst du den, Dog? Da rennt der Junge weg und die Eltern fahren weg und dann bleibt er allein zu Hause und muss das Haus gegen Einbrecher verteidigen.“ Sheepdog war inzwischen in die Küche gegangen. „Nie gehört“, rief er zurück. „Eigentlich rennt er nicht weg. Seine Eltern vergessen ihn einfach“, sagte ich, diesmal etwas lauter. Ich merkte, wie meine Zunge sich mit dem letzten Satz gelöst hatte. „Ist das so?“, ihre grelle Stimme erfüllte den Raum. „Hab ich wohl nicht richtig aufgepasst. Das sind dann ja echt schlechte Eltern, wenn die einfach so wegfahren.“ Ich nickte und musste lächeln. „Hey du, Fehlerkind,“ kam es aus der Küche, „willst du was futtern?“ „Klar will er das! Und bring mir gleich was mit“, rief Day Snack zurück. Sie wandte sich wieder zu mir. „Magst du Lil Snitch?“ „Den Rapper?“ „Na klar den Rapper. Die zeigen grad all seine Musikvideos. Willst du mitschauen?“ „Okay“, sagte ich nur. „Dann setz dich. Das ist eigentlich Dogs Sessel, aber er hat hier im Moment eh nichts zu sagen.“ Ein freches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. Das war das einzige Mal, dass ich in Sheepdogs Sessel sitzen würde. Er reagiert sehr empfindlich, wenn jemand anderes als er darin sitzt. Der Fernseher flackerte und eine Reihe Frauen, als Ananas verkleidet, drehte sich in einer gigantischen Saftpresse. „Ich werde auch mal Tänzerin“, sagte Day Snack während sie auf den Bildschirm schaute. „Richtig professionell wie Beyoncé oder Ginger Rogers. Das war mal ‘ne richtig geile Tänzerin. Die ist noch in Schwarzweißfilmen aufgetreten.“ Aus der Küche war das Geräusch einer Mikrowelle zu hören. „Und dann wirst du mich auch im Fernsehen sehen. Dann werde ich mir eine Wanne bauen lassen und sie mit Marshmallows füllen. Und dann werde ich mich reinplumpsen lassen und so viele davon aufessen, bis ich selber ein Mashmallow geworden bin.“ Sie blies ihre Backen auf, dann lachte sie wieder. In dem Moment kam Sheepdog aus der Küche. Er hatte zwei tiefe Teller in der Hand, in denen eine dampfende rote Flüssigkeit lag. „Was ist das?“ fragte Day Snack. „Tomatensuppe“, antwortete Sheepdog trocken. „Ich habe Lust auf Pfannkuchen.“ „Dann hol sie dir wo anders. Ich habe nur das hier. Und was macht das Balg in meinem Sessel?“ „Ich habe ihm gesagt, dass er sich setzen kann. Du warst ja eh nicht da.“ „Aber jetzt bin ich hier. Steh gefälligst auf. Du setzt dich nicht einfach auf fremde Sessel.“ Dies war die erste von vielen Standpauken, die Sheepdog mir halten würde. Ich würde mich immer daran erinnern. Und ich würde mich immer an Day Snack erinnern. Ich erinnere mich noch an ihre letzten Worte, bevor sie ihren Unfall hatte. „Du bist kein Fehler, Error. Du bist nur nicht mit deinen Eltern kompatibel. Sowas hat mal ein IT-Typ zu mir gesagt. Also das mit dem kompatibel, von dir hat er nicht gesprochen.“ Dann zwinkerte sie mir zu und stieg in das Auto.