Henrik Lode: Stellungnahme

4. Platz beim Putlitzer Preis® 2017

Berlin, 1. April 2017

Sehr geehrte Damen und Herren der Berliner Staatsanwaltschaft,

meinem Recht als Beklagter nachkommend, möchte ich zu den gegen mich erhobenen Vorwürfen („Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“ und „Fahrlässige Körperverletzung“) Stellung beziehen.

Am Freitag, den 9. Dezember 2016, näherte ich mich gegen 21 Uhr dem Fahrradabstellbereich auf der Warschauer Brücke, wo ich missfallend zur Kenntnis nahm, dass mein Rad nicht mehr an jenem Platz sich mir offenbarte, an dem ich es rund zehn Stunden zuvor zurückgelassen hatte. Die taktile Überprüfung dieses Sachverhalts sowie das Auffinden meines durchtrennten Schlosses ließen in mir die dringende Ahnung keimen, das Opfer einer Straftat geworden zu sein.

Schleunigst begab ich mich zum Polizeirevier in der Wedekindstraße, um meinen Verdachtsfall einem Gesetzeshüter darzulegen. Im Rahmen der Anzeigeerstattung setzte mich der diensthabende Beamte unaufgefordert davon in Kenntnis, dass die Warschauer Brücke ein beliebter, wenn nicht der beliebteste Berliner Ort für Diebstahldelikte solcher Art sei.

Dieser Hinweis nun brachte mir eine Möglichkeit zu Bewusstsein, dem überaus unerfreulichen Verlust einen positiven Aspekt abzugewinnen. So besaß ich ein altersschwaches Zweitfahrrad, das seit Langem unbewegt in meiner Diele stand, wo es mir Platz und Nutzen vorenthielt.

Ich beschloss also, besagtes Rad – jenes bedeutungsschwangere Vehikel, das Sie anhand der Rahmennummer schon richtigerweise als mein früheres Eigentum identifizieren konnten – ungesichert auf der Warschauer Brücke zu hinterlassen, um es als anonymes Präsent einem ersatzteilbedürftigen Fahrradbesitzer schenkend darzureichen. Neben der dienlichen Beseitigung des mir nutzlosen Utensils bot ein solches Unterfangen auch die perfekte Gelegenheit, ein wenig Nächstenliebe zu veräußern.

Im Vorfeld demontierte ich noch ein paar marginale Verschleißteile, um sie zum Zwecke zukünftiger Reparaturen in meinem privaten Materialfundus zu belassen. Dies betraf die Befestigungsschraube des Sattels, die Fixierungssplinte der Pedalarme, sämtliche Bremsklötze, die vier Muttern, welche Vorder- und Hinterrad mit dem Rahmen verbinden sowie den langen Metallstift, der das richtungsbildende Einvernehmen zwischen Lenkstange und Vorderrad sicherstellt.

Um dem glücklichen Finder einen komfortablen schiebenden Abtransport zu ermöglichen, unterzog ich das Fahrrad in großherziger Selbstaufopferung einer abschließenden Instandsetzung; das heißt: Ich säuberte alle Oberflächen, befüllte die Reifen mit genügend Luft, gab Öl auf quietschende Teile und verband alle im Zuge meiner Materialentnahme gelösten Verbindungen mit ein wenig Kaugummi.

Soweit zum Hergang der Dinge, was meine Beteiligung betrifft. Einzig das selbstlose Entzücken über die gelungene Schenkung, welches ich ein paar Tage später beim Erblicken des fehlenden Rades empfand, sei noch erwähnt.

An dieser Stelle nun scheint mir eine kleine Randnotiz angebracht – ein kurzer Appell, der sich neben dem Kläger auch an alle sonstigen Rad- und Autofahrer richtet:
Ein jeder Verkehrsteilnehmer sollte sich vor Fahrtantritt stets der Tauglichkeit seines Gefährts versichern! Im Besonderen gilt dies bei einer erstmaligen Nutzung – obendrein unter solch alpinesken Abfahrtsbedingungen, wie sie die Warschauer Brücke bietet.

Denn wie ich verschiedenen Zeugenaussagen entnehmen konnte, hatte es der erfreute Finder wohl recht eilig, nachdem er das Präsent ergriff. Nur ein kurzes Verharren, ein Quäntchen verantwortungsbewusster Geduld wären hier vonnöten gewesen, die weißleuchtenden Kaugummiverbindungen ihrer Unvollkommenheit zu überführen und dem Unglücksfall am Fuß der Brücke vorzubeugen.

Dass die Kaugummi-Provisorik überhaupt einem derart kolossalen Tempo standhielt, muss letztlich der Kategorie des närrischen Zufalls hinzugerechnet werden. Gleiches gilt für die rote Ampel sowie das beachtliche Verkehrsaufkommen am Zielpunkt der Schussfahrt.

Resümierend ist fraglos ein positives Fazit zu ziehen – insbesondere in Anbetracht der schweren gesundheitlichen Einbußen, die für den Kläger aus seiner fahrlässigen Handlungsweise resultieren. Denn schließlich kann es inmitten der hektischen Betriebsamkeit unseres Alltags wohl kaum eine aussichtsreichere Brutstätte für die Vermehrung von Umsicht, Pflichtgefühl und Sorgfalt geben, als den kontemplativen Kosmos der universellen Bettlägerigkeit.

Hochachtungsvoll,
Henrik Lode.

 

P.S.:

Die originelle Hypothese der Anklage, ich hätte „durch die vorsätzliche Bereitstellung einer schadhaft präparierten Fahrgelegenheit […] das Schicksal zur Statuierung eines grausamen Exempels geradezu herausgefordert“, zeugt übrigens von einem hohen Maß an kreativer Intelligenz und spirituellem Sachverstand. Ich freue mich daher schon sehr, im Rahmen der Verhandlung diese und gegebenenfalls weitere Theorien aus den spannenden Sphären anwaltssprachlicher Metaphysik in einem befruchtenden Diskurs zu erörtern.

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