4. Platz Putlitzer Preis® 2023
Interessant war zunächst schon allein die Tatsache, dass der Nackte, der regelmäßig an derselben Stelle wie auch wir am Baggersee sein Handtuch ausbreitete, jedem gerne und ungefragt davon erzählte, warum er nackt war. Es ginge ihm um das Gefühl von Freiheit – aber ein Ossi sei er nicht, das wolle er doch unbedingt betonen. Man müsse schon seit Jahren kein Ossi mehr sein, um gerne nackt zu baden. Mit einer weitschweifigen Handbewegung deutete er dann gerne auf die wenigen der anderen Badegäste, die ebenfalls hüllenloses Schwimmen im See bevorzugten. Um gerne nackt zu baden, müsse man nur jemand sein, der sich gerne freimache und sich gerne frei fühle. Wie er zum Beispiel, der einer öden beruflichen Tätigkeit nachgehe, weswegen er dann im Sommer immer freitags nach der Arbeit in die S-Bahn steige, raus zum Baggersee fahre und mit einem Bier das Wochenende einläute. Nur, wenn am Wochenende der örtliche Fußballclub spiele, verzichte er meistens aufs Nacktbaden und gehe lieber ins Stadion. Denn die Stimmung im Stadion und die Gemeinschaft dort sei so schön und mache das Leben noch lebenswerter.
Er erzählte das alles sehr oft. Im Verlauf von vier Sommern hörten wir diese Geschichte abwechselnd direkt an uns gerichtet oder indirekt, wenn er sie anderen Badegästen erzählte, grob überschlagen bestimmt 150 Mal. Manchmal hatte er auch mehr als nur ein Bier im Gepäck und dazu sein batteriebetriebenes Radio dabei, mit dem er dann irgendein Fußballspiel verfolgte. Ab und an spielte er auch eine eigenwillige Playlist über sein Mobiltelefon ab, deren Liedauswahl nicht bei jedem auf Gegenliebe stieß.
Trotzdem wurde er von jedem am Baggersee akzeptiert. Weil er stets höflich war und Zwischentöne in unseren kurz angebundenen Unterhaltungen stets richtig deutete – nicht immer hat man Zeit und Lust, sich mit einem im Grunde wildfremden Menschen, der obendrein wie jemand wirkt, der sehr einfach gestrickt ist – zu unterhalten. Das akzeptierte er allerdings ohne Wenn und Aber. Er war nicht lästig. Deshalb gehörte er sommers am Baggersee für die meisten schlicht zum Inventar.
Jeder kannte seinen Vornamen – und er kannte auch unsere. Zwar verwechselte er sie permanent, aber das ignorierten wir schon ab seinem ersten diesbezüglichen Vertuer, um ihn nicht zu beschämen. Denn er war stets allein am Baggersee und er tat uns deshalb ein bisschen leid.
Sogar im vierten Jahr, nachdem er unsere Namen vielfach hätte gehört haben können, verwechselte er sie immer noch, wenn er uns dann und wann direkt anredete. Wir führten das darauf zurück, dass sein schlichtes Gemüt und seine offenkundige Einsamkeit ihn dazu veranlassten, sich immer wieder aufs Neue in seinen eigenen Geschichten und dem Bier zu verlieren, und es deshalb in seinem Kopf zu wenig Platz für wirkliches Interesse an anderen Personen gab.
Als wir im fünften Jahr zum ersten Mal ein Schachbrett mit an den Baggersee nahmen, hob er interessiert das Kinn und sagte: „Ah! Schach!“
Ich erklärte, dass ich nicht besonders gut spielte, woraufhin er mit einer höflichen Geste und einem verschmitzten Lächeln zu verstehen gab, dass er mich gerne zu einer Partie herausfordern würde.
Amüsiert und augenrollend kommentierte er kurz darauf meine, bisweilen hilflosen, Züge, um mir am Ende zu erklären, ab welchem Zug, gleich zu Beginn des Spiels, ich eigentlich schon verloren hatte. Dann erzählte er von dem Schachbrett, das bei ihm auf dem Wohnzimmertisch stand und das er selbst aus Holz gefertigt habe. Denn er habe im Winter, wenn keine Baggerseesaison sei, einfach zu viel Zeit am Wochenende.
Wir schlugen ihm vor, sich doch in einem Schachclub nach einer Gefährtin umzuschauen. Aber er winkte nur ab, nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche und erzählte wie beiläufig von einem Autounfall auf der Fahrt in den Urlaub, bei dem vor sechs Jahren seine Tochter ums Leben gekommen sei. Aber zum Glück gebe es den Fußballclub und manchmal sei das Leben ja auch noch ein bisschen schön – so wie jetzt, wenn sich zufällig eine Schachpartie ergebe oder einfach nur Sommer sei.
Als wir nichts sagten, zeigte er mit der Hand, in der er die Bierflasche hielt, auf das Schachbrett und sagte: „Du musst noch ein bisschen üben.“