Renan Spode: Transit

6. Platz Putlitzer Preis® 2024

Ich muss Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich niemand anderem erzählen kann.

Ich wartete auf dem Bahnhof auf einen alten Freund. Er hatte angerufen morgens, nachdem wir jahrelang nicht miteinander gesprochen hatten -, und gefragt, ob ich Zeit hätte. Nicht lange, er sei auf der Durchreise, aber er habe gesehen, dass sich meine Heimatstadt auf seiner Strecke befinde, und gedacht, es wäre doch schön, wenn wir uns mal wiedersähen.

Es war Herbst und es regnete viel, seit Tagen war alles überzogen von einer feuchten Schicht aus Nieselregen. Am Morgen war mein Mantel noch klamm vom Vortag und als ich zum Auto lief, sah ich meinen eigenen Atem. Ich erzähle Ihnen das nicht, um irgendeine Stimmung zu erzeugen, es war einfach so.

Ich war zu früh dran, kaufte mir einen Kaffee im Backshop und ging auf dem Bahnsteig auf und ab, während ich auf den Zug wartete. Ich sitze ungern, während ich warte, Sie kennen das bestimmt.

Wir hatten uns wirklich lange nicht gesehen. Wir, also Sven und ich, waren in der Oberschule befreundet gewesen. Unzählige Nachmittage hatten wir miteinander verbracht, immer bei Sven; seine Eltern waren beide arbeiten gewesen und so hatten wir unsere Ruhe gehabt. Wir hatten auf dem Balkon im ersten Stock des Einfamilienhauses geraucht und die Kippen unter einer losen Fliese versteckt. Später war Sven zum Studieren weggezogen, und ich war geblieben.

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr und die Bremsen quietschten, hielt ich mir die Ohren zu und biss die Zähne aufeinander.

Meiner Frau hatte ich nichts von dem Treffen gesagt. Sie kannte Sven von früher. Immer wenn ich von ihm erzählte, und das geschah selten, tat sich etwas in ihrem Gesicht. Ich meine nicht, dass sich ihre Augen verfinsterten oder etwas in der Art, nein, nicht so etwas Aufdringliches. Es war bloß so, als dächte sie sofort an etwas anderes und hörte nicht mehr richtig zu, wenn ich ihn erwähnte. Zumindest hatte sie nie eine Frage zu dem, was ich erzählte, und wechselte, sobald sich die Gelegenheit ergab, das Thema. Ich hatte ihr also nichts davon erzählt, und meinem Chef hatte ich gesagt, ich müsse mit dem Jüngsten zum Arzt. Er hatte gesagt, er hoffe, es sei nichts Ernstes, und ich hatte seltsamerweise Weise gelacht. „Nein, nein. Nichts Ernstes. Es ist nur wegen seiner Verdauung. Er hat Probleme mit der Verdauung.“ Und ich hatte mit den Schultern gezuckt. Ich fand, es war eine gute Ausrede.

Als der Zug zum Stehen kam, hoffte ich kurz, dass die Türen geschlossen blieben. Es regnete und es roch nach Bremsbelag und Elektrizität. Sven stand am anderen Ende des Bahnsteigs und sah sich um. Er hatte mich offensichtlich noch nicht entdeckt.

Einen Nachmittag mit Sven habe ich besonders in Erinnerung behalten. Wir waren Jugendliche, ich weiß nicht mehr genau, wie alt wir waren, aber es war nicht mehr lange bis zum Abitur. Wir hatten auf seinem Balkon gekifft, lagen auf dem Teppichboden seines Zimmers und richteten uns nur auf, um Fanta zu trinken. Ich weiß nicht mehr alles, nur dass die Sonne durchs geschlossene Fenster schien und man die Staubkörner im Licht schweben sah. Es kann sein, dass sich in meiner Erinnerung auch mehrere Tage miteinander vermengen, wie gesagt, es ist schon viele Jahre her. Jedenfalls kam Svens Bein gegen mein Bein und was soll ich sagen, also ich zog mein Bein nicht weg. Und das war es auch schon. Er zog sein Bein nicht weg, und vielleicht, weil er es nicht tat, zog ich meins auch nicht weg.

Ich lief in Svens Richtung. Als er den Kopf zu mir drehte, winkte ich.

„Sven.“

Er winkte zurück und lächelte. Es lagen noch bestimmt fünfzig Meter zwischen uns und ich wusste, ich würde unmöglich über die gesamte Strecke den Blickkontakt mit ihm halten können, und so sah ich einmal auf mein Handy, einmal auf meine Armbanduhr, einmal auf die Bahnhofsuhr und einmal ohne Grund über meine Schulter.

Dann standen wir voreinander und umarmten uns kurz und fest.

„Lass uns einen Kaffee trinken gehen“, sagte er, und beim Laufen klopfte er mir mehrmals auf die Schulter.

Ich fragte ihn, wie die Fahrt gewesen sei, und er fragte mich, ob ich heute noch arbeiten müsse. Im Bahnhofscafé bestellte ich mir ein Croissant und einen Cappuccino und er sich einen Kaffee.

„Morgens kann ich immer nur Kaffee mit Milch und Zucker trinken. Und rauchen“, sagte Sven und lachte.

„Wie immer“, sagte ich und lachte auch.

Wir warteten, bis unsere Bestellung kam. Sven schälte sich umständlich aus seinem Mantel. Dann strich er sich die Hose glatt und sah auf sein Handy. Ich studierte die Karte, die auf dem Tisch lag, obwohl ich nicht vorhatte, noch etwas zu bestellen.

Wir redeten dann über die üblichen Themen. Die Arbeit, die Kinder, die Ehe. Ich weiß auch nicht, was ich gedacht hatte, was wir besprechen würden.

Er trank seinen Kaffee in vielen kleinen Schlucken und ich aß die Hälfte meines Croissants. Sven hatte schon früher seinen Kaffee so getrunken, also mit vielen kleinen Schlucken, das wollte ich ihm auch sagen, fand aber nicht die richtigen Worte. Ich sah auf die Uhr. Sven stand auf und ging auf die Toilette. Ich sah auf mein Handy. Als er wiederkam, sagte er, wir hätten uns viel zu lange nicht gesehen, und ich nickte. Wir redeten noch ein wenig, ich weiß nicht mehr, über was, dann ging Sven rauchen, und als er zurückkam, sah er auf die Uhr.

„Schon so spät? Mein Gott, die Zeit vergeht so schnell. Mein Zug kommt gleich.“

Ich sagte, ich würde ihn noch zum Gleis bringen. Am Bahnsteig verabschiedeten wir uns voneinander.

Als ich ging, drehte ich mich noch mal um und hielt mein Handy in die Luft. „Wir hören uns.“

Sven hielt seine zu einem Telefonhörer geformte Hand an Ohr und Mund und rief: „Sehr gerne.“

Dann stieg er ein.

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