1. Platz (2) Putlitzer Preis® 2023
Bruno glitt mit gleichmäßigen Bewegungen auf seinem Rudergerät vor und zurück. Auch mit sechsundsiebzig verzichtete er an keinem Tag auf sein morgendliches Workout, für dessen passendes Ambiente eine riesige Fototapete ‚Schliersee im Frühnebel‘ sorgte. Der Blick aus dem Fenster bot dagegen nur die Aussicht auf einfallslose Wohnblocks.
„Sadhana, sorry, I have to end our call now, there is someone in the line“, sprach Bruno in das Mikro seines Headsets. Vor ein paar Monaten hatte Sadhana zum ersten Mal bei ihm angerufen und sich als Microsoft-Mitarbeiterin ausgegeben. Sein Computer müsse dringend von gefährlichen Viren befreit werden, hatte sie gesagt. Der Anruf war damals von ihrem Supervisor abgebrochen worden, nachdem Bruno sich mit Sadhana eine Weile über ihre Lebensumstände unterhalten hatte. Danach hatte sie ihn mehrfach heimlich kontaktiert und Bruno konnte sie schließlich davon überzeugen, dass der Job in diesem Call-Center nichts für eine ehrbare Frau war. Zur Überbrückung hatte er ihr sogar ein paar hundert Euro überwiesen.
Bruno nahm den neuen Anruf entgegen.
„Hallo Bruno, rate mal wer dran ist“, säuselte eine ihm unbekannte Frauenstimme. Bruno hörte auf zu rudern und lehnte sich in seinem Sitz zurück.
„Nein, das gibt’s doch nicht – Eva, meine Enkelin, bist du das?“.
„Ja genau, Bruno, ich bin‘s, Eva. Du, mir ist etwas ganz furchtbares passiert. Ich habe jemanden angefahren und schwer verletzt und brauche jetzt dringend 15.000 Euro für die Kaution, sonst muss ich ins Gefängnis.“ Die Stimme am Telefon war in ein Schluchzen übergegangen. „Kannst Du mir nicht das Geld leihen, nur bis morgen? Da bekommst Du es garantiert zurück.“
„Eva, ich helfe ja gerne, aber Du weißt doch, ich habe nur die alten D-Mark-Scheine unter meiner Matratze. Ich vertrau doch dem Euro nicht. Ich kann Dir nur die geben.“
Für einen Moment verstummte das Gejammer, dann meldete sich die Stimme wieder: „Das geht vielleicht auch. Wieviel hast Du denn?“.
„Na, das werden so fünfzig oder sechzig tausend D-Mark sein.“
Wieder Stille. Dann sagte die Anruferin: „Das ist echt lieb von Dir, Bruno. Ich komme in einer halben Stunde vorbei und hole das Geld. Bleib aber in der Nähe vom Telefon und halte die Leitung frei, falls noch was ist“.
Bruno stand auf und trocknete sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Praktisch im Zwei-Minuten-Takt rief die Frau an, um sich zu vergewissern, dass er das Geld schon unter der Matratze hervorgeholt und gezählt hatte. Bei einem der Anrufe verkündete sie, dass sie ja noch auf dem Präsidium festgehalten würde, aber ein Freund von ihr das Geld abholen würde. Irgendwann ging Bruno zu seinem Barschrank, räumte das oberste Fach mit den Schnäpsen aus und entfernte die Rückwand. Dahinter waren dicke Bündel alter D-Mark Scheine gestapelt, hauptsächlich Fünfziger und Hunderter. Er stopfte alle in einen Beutel, stellte die Flaschen zurück in den Schrank und goss sich einen Birnenbrand ein. Normalerweise trank Bruno nie um diese Zeit, aber da er das Zeug nun schon mal in der Hand hatte …
Wieder klingelte das Telefon, jetzt meldete sich eine Männerstimme: „Hallo Herr Mertens, hier spricht Kommissar Müller von der Kriminalpolizei Köln. Wir haben soeben einen Anruf an Sie abgefangen, offenbar versucht jemand, Ihnen mit dem Enkeltrick Geld abzuknöpfen.“ Bruno setzte sich auf die Couch und warf einen Blick auf die Tageszeitung. »Diebstahl«, »Raub«, »Schlägerei« schrie es ihm von den Überschriften entgegen. Was für eine Welt!
Die Telefonstimme meldete sich, nun etwas ungeduldig, wieder: „Haben Sie mich verstanden, Herr Mertens? Der Enkeltrick, jemand hat sich fälschlich als Ihre Enkelin Eva ausgegeben“.
„Nee, das gibt’s doch nicht“, hauchte Bruno mit zittriger Stimme, „jetzt wo Sie das sagen! Das klang ja auch gar nicht wie meine Eva. Es gibt doch schlechte Menschen! Was mache ich denn jetzt?“.
„Herr Mertens, wir haben alles unter Kontrolle, es besteht keinerlei Gefahr für Sie. Meine Kollegen sind schon positioniert, um den Geldboten abzufangen. Damit die Strafe für diese gemeine Bande möglichst hoch ausfällt, ist es ganz wichtig, dass Sie wirklich alles Geld, das Sie haben, in die Plastiktüte stecken, die sie dem Boten übergeben. Das Geld wird natürlich von uns sofort beschlagnahmt und an Sie zurückgegeben. Alles klar?“.
„Ja, wenn Sie meinen, dann mache ich das so. Geht auch Jute statt Plastik?“
„Wie bitte?“, fragte der Anrufer laut. Dann hatte er begriffen. „Ja, Sie können das Geld auch in eine Jutetasche stecken.“
Wenige Minuten später klingelte es an der Haustür. Bruno ging die zwei Stockwerke hinunter und öffnete. Vor ihm stand ein junger Mann mit Pickeln und fettigem Haar. „Sind Sie der Freund von Eva?“, fragte Bruno.
„Ja, klar“, sagte der Mann und schaute sich unruhig um.
„Also ich glaube, diese Eva tut Ihnen nicht gut“, sagte Bruno.
„Jetzt quatsch nicht, Eva braucht dringend das Geld“. Er nahm Bruno den Beutel mit den Scheinen aus der Hand und ging schnell die Straße hinunter. Bruno schaute ihm noch eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf und stieg wieder die Treppen hoch. In seiner Wohnung betrachtete er den Tapeten-Schliersee und murmelte: „Und ich brauch‘ dringend eine Luftveränderung.“
Ein paar Wochen später absolvierte Bruno sein morgendliches Fitnesstraining im Norden von Bangalore. Die indische Stadt war ein fürchterlicher Moloch, aber hier draußen ließ es sich ganz gut aushalten. Wegen der Höhenlage waren selbst die Temperaturen angenehm. Im Internet hatte er von der Enkeltrick-Bande gelesen, die beim Versuch, alte D-Mark Scheine umzutauschen, hopsgenommen worden war. Ein paar der Scheine waren über ihre Seriennummern einem Bankraub in den Achtzigern zugeordnet worden.
Ja, früher war Bruno selbst ein Gauner gewesen, und nicht mal ein kleiner. Aber alle seine Taten waren längst verjährt, und echte Waffen hatte er bei der Arbeit nie verwendet. Er würde jederzeit nach Deutschland zurückkehren können, doch nun unterstützte er erstmal Sadhana und ihre Familie beim Aufbau ihrer kleinen Ökofarm. Er war als ‚Sales & Marketing Manager Europe‘ engagiert worden, allerdings mit winzigem Gehalt. Aber hier brauchte man nicht viel zum Leben. Und das Beste war: der See und das Ruderboot waren echt.