3. Platz Putlitzer Preis® 2024
Vielleicht lag es an meinem Unfall, dass ich an diesem Tag unbedingt in die Eckkneipe wollte. Die letzten fünfundvierzig Jahre, die ich nun in meiner Einraumwohnung lebe, war ich jedenfalls nie auf die Idee gekommen. Ich schaute nur durch die Fenster, wenn ich vorbeiging. Fast täglich sah ich die Hertha-Flagge in dem einen Zimmer, den Holztresen und die Rauchwolken im anderen. Dazu die ältere Barfrau mit der Dauerwelle und die junge mit den Tätowierungen. Nie hatte ich Lust verspürt, dort etwas zu trinken.
Doch auf einmal kam diese Sehnsucht auf. Obwohl der Arzt in der Notaufnahme gesagt hatte, ich dürfe nur nach Hause, wenn ich mich schonte. Ich band mir die Schnürsenkel, ging die vier Stockwerke hinunter, trat auf die Straße und zog am Eck die Türe auf. Ich querte den Raum, setzte mich auf einen der Hochstühle an den Tresen und bestellte bei der jungen Bedienung ein Bier und einen Schnaps.
Als erstes fiel mir auf, dass die Muster, die die Frau auf den Armen trug, schöner waren, als ich das erwartet hätte. Ich hatte durch die Fensterscheibe nicht gesehen, dass es feine Tierzeichnungen waren. Ja, sie trug einen Anker mit „Mama“ auf dem rechten Unterarm. Aber das könnte auch ironisch sein. Ich nahm einen Schluck Korn und betrachtete den Frosch, den Hasen und den Fuchs, die auf ihrem linken Oberarm miteinander zu spielen schienen.
„Was guckste denn so?“, fragte sie.
Ich war es nicht gewohnt, geduzt zu werden, antwortete: „Ich bewundere Ihre Tätowierungen.“
„Mrhs“, antwortete sie. Ein Geräusch, das ich nie zuvor gehört habe und das vermutlich nur eine leicht gelangweilte Barfrau im Wedding von sich geben kann.
Als nächstes fiel mir der Mann im Pelzmantel auf. Sieht man nicht oft in Berlin, schon gar nicht in einer Eckkneipe. Er saß mit dem Rücken zu mir und rauchte.
„Muss abkassieren, Schichtwechsel“, sagte Frau Tätowierung.
Ich legte vier Euro in ihre Handfläche. Sie nickte mir nur kurz zu und warf das Geld in die Kasse. Ich glaube mich zu erinnern, dass der Fuchs auf ihrem Arm kurz zuckte. Natürlich durch ihre Bewegungen. Aber von heute aus betrachtet scheint es fast, als hätte er es selbst getan.
„Dieter, ich mach los“, rief Frau Tätowierung.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich muss bei Dieter immer an Dieter Bohlen denken. Ich erwartete also einen Solarium gebräunten Mann, der gleich ein paar Altherrenwitze auftischen würde. Frau Tätowierung hängte sich eine Tasche aus pinkfarbenem Lederimitat um, drückte sich am Pelzmantel vorbei und verließ den Laden. Dann kam Dieter aus dem Hinterzimmer, und Dieter war — ob Sie mir glauben oder nicht, ist mir fast gleichgültig — Dieter war also ein Waschbär.
Dieter zog einen kleinen Schemel hinter sich her, stellte ihn hinter den Tresen und kletterte darauf. So stand er auf Augenhöhe vor mir. Sein Fell sah weniger kuschelig aus, als ich das erwartet hätte. Er roch leicht nach Tier, weniger als ich das bei einem Wildtier erwartet hätte. Er wischte mit einem Lappen über … ich nehme an, den Rand der Spüle. Jedenfalls, Dieter war reinlicher, als ich das erwartet hätte. Ich verkniff mir, seinen Anblick mit „ach süß!“ zu kommentieren.
„Allet schick?“, fragte Dieter und sah mich unverwandt an.
Ich griff nach dem Schnapsglas, merkte, dass ich es bereits geleert hatte. Dieter hob die Flasche Weizenkorn und ich hielt ihm mein Glas hin. Ich nippte, stellte das Glas ab und hielt mich an meinem Bierglas fest. Hassen Sie es auch, wenn Sie Bier so langsam trinken, dass es schal schmeckt? Ich trank also Bier, bevor es so weit war.
Der Pelzmantel begann zu sprechen. „Isch will au no wassss.“ Ein Zugezogener also, wie ich. Ein grummeliger dazu, vielleicht enttäuscht von der Stadt. Ich wusste immer noch nicht, wie ich mit Dieter umgehen wollte, als der Pelzmantel sich umdrehte, Dieter sein Bierglas hinstreckte — und es gar kein Pelzmantel war.
Als ich dem schlecht gelaunten Dachs ins Gesicht blickte, schloss ich für einen Moment die Augen.
Ich hörte sein „Dankkk“.
Ich hörte, wie Dieters Hocker leicht auf dem Boden scharrte.
Ich hörte meinen eigenen Atem, den ich als schneller empfand, als er hätte sein sollen.
Ich zählte bis vier beim Ein- und bis sechs beim Ausatmen. Ich öffnete die Augen.
Ich sah wieder, wie Dieter mit dem Lappen hantierte, ich sah wieder den Pelzmantel, also den Dachs. Ich fragte mich, ob ich meine Situation thematisieren sollte. Ich könnte Dieter vielleicht fragen, woher er eigentlich komme — schließlich sind Waschbären eine invasive Art — und entschied mich dagegen. Es wäre unhöflich gewesen, vielleicht sogar rassistisch. Bevor ich mich ernsthaft fragen hätte können, was ich als nächstes tun sollte, öffnete sich die Tür der Eckkneipe erneut.
Ein Fuchs kam auf allen Vieren herein, richtete sich auf und ging auf zwei Beinen zu einem Tisch am Fenster.
„Tach, ihr Nasen. Renatte noch ga nüch da?“, fragte er. Ich sah den Fuchs an, sah Dieter an, sah den Dachsrücken an, der sich nun Richtung Fuchs drehte und ein gedehntes „Näääh“ hervorstieß. Der Dachs leerte sein Bier und sagte: „Un du biss auch zz spät, Fred.“
Dieter sah auf seine Smartwatch und sagte „Ist erst viertel.“
Ich dachte: Viertel was? Und sah selbst auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. Ich bin selten länger als bis zehn wach.
Ich nippte nochmals am Schnaps, sagte: „Die Rechnung, bitte.“
„Der geht aufs Haus.“
„Das kann ich nicht annehmen.“ Ich kramte aus meinem Portemonnaie ein Zwei-Euro-Stück, legte die Münze auf den Tresen, „Trinkgeld“.
Ich stand auf, ging zur Tür, zog sie auf und — „Vorsicht!“, rief Dieter.
„Sehr freundlich, mir die Tür aufzuhalten“, sagte eine weibliche Stimme von weiter unten. Ich blickte Richtung Boden und sah eine Taube hereinhüpfen.
„Da bisste ja“, brummte der Dachs.
„Tachchen“, sagte die Taube.
„Renattte! De Sonne geht ufff“, rief der Fuchs.
„Ihr wisst ja, wo die Würfel sind“, sagte Dieter.
Ich trat auf die Straße.
Und ich dachte, dass ich einen ausgezeichneten Abend verbracht hatte. Und dass ich auch gerne mal wieder Kniffel spielen würde.