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Seine Kontaktanzeige löste einen kurzen Email-Verkehr aus. Dann setzte Nadeschda sich in einen Zug und fuhr zu einem blinden Treffen, was komisch klang auf Deutsch, und gar nicht komisch sein würde, doch noch fuhr die Hoffnung mit. Ihr Hochmut verfiel mit der Fahrzeit, fiel mit den Blättern draußen: herbstkühl war es. Ihr wurde alt, und ihre Verworfenheit war mit den Jahren noch gewachsen, doch ein unbeschriebenes Blatt war sie nie gewesen. Sie hätte ihn gern gefragt, vorher, wie man Liebe ohne Papier buchstabiert, doch sie wagte es nicht. Er glaubte an Gott und daran, dass es Die Eine gab, den Deckel für seinen Topf. Er hoffte mit ihr auf Seine Eine, doch da würde nichts kommen. Nichts als ein Stottern, ein Stammeln, ein Nichtvorhandensein. Und eben sie, Nadeschda.
Liebe war nichts als eine Hoffnung, die nicht platzte, aber manchmal lächelte jemand ihr ins Gesicht, oder eine Mail schoss ihr in den Schoß, und sie vergaß alle düsteren Prophezeiungen und fuhr los.
„Bitte mach dir nicht so viel Stress mit vorauseilendem Herumbasteln an irgend gemeinsamen Leben, Frühstücksei und solchen Sachen!“, hatte sie ihn gebeten. „Das kann man doch alles gar nicht wissen und also gar nicht wollen/anstreben/klären. Oder?“ Sie liebte die unentschiedenen Schrägstriche. Als Antwort kam nur „Bis gleich! Ich freue mich!“
Wie konnte er sich freuen, wenn er sie gar nicht kannte? Weder wusste er, ob er auf die Art, wie ihr Ohrläppchen lappte, idiosynkratisch reagieren würde, noch, ob ihm ihre Stimme zu tief, zu hoch oder zu seicht sein würde; Er wusste ja nicht mal, ob er sie riechen könnte! Und sie nicht, ob sie sein Kauen würde ertragen oder es nur als gewalttätigen Akt hören können, der sie zurücktriebe an den Schreibtisch, fort von ihm und jedem, hin zum Papier und Nichts.
Nadeschda holte ihr Taschentuch hervor und legte es auf die Tinte. Das war wie ein Ersticken. Zugleich ein Bewahren. Ein bewahrendes Ersticken. „Fahrkartenkontrolle!“
Sie lachte die Schaffnerin an, denn die wusste, was Verreisen bedeutete und dass jedes Ankommen vorüberging wie Tränen auf Abschiedswangen.
Die Landschaft fuhr schneller als Nadeschda. Rasch verschwand sie im Raum. Nadeschda blieb, wie ein Stein, den niemand warf. Sie sehnte sich bereits nach der Rückfahrt, wenn wieder klar wäre, dass es nichts bringt, hin- und herzufahren. Sie kannte die Richtung und mied das Ziel, solange es möglich war. Das Ziel war das Ende, die Luft dann vorbei.
Sie ahnte also, dass die Hoffnung platzen würde wie eine Blase, und nichts übrigließe als ein paar Schlieren an der Oberfläche. Und doch ließ sie ihr keine Ruhe – seine geschriebenen Worte wirkten wie ein zärtlicher Balsam gegen alle Wahrscheinlichkeit. Er hatte geschrieben: „Ich halte meinen Herzensvogel gefangen und warte, wer ihn frei lässt.“
Nadeschda fand das dumm, aber süß.
„Der Weg ist das Ziel.“ Auch das hatte er geschrieben, ohne erkenntlich vor Scham in Grund und Boden zu versinken, hatte nicht mal ein relativierendes Smiley hinter jene unausrottbare Lüge gesetzt. Als sie ihn am Bahnhof stehen sah, klein und gebückt und viel zu nah und weit, weit weg, wusste sie: Das war er. Und: Der war es nicht, auch nicht für eine Nacht. Doch sie wollte die Hoffnung noch nicht fahren lassen, dass sie es war, die sich irrte, und nicht die Hoffnung.
Im Auto saß seine Hündin auf dem Boden am Beifahrersitz – ein Test, argwöhnte Nadeschda. Die feuchte Schnauze des Tieres nässte ihr Hose und Wade; ansonsten ließ es keinerlei Interesse für sie und ihre halbherzigen Streichelversuche erkennen.
Er zeigte ihr sein Städtchen, rief ab und zu die Hündin zur Ordnung, schimpfte beschämt, als diese ihr Häufchen mitten auf dem Weg machte, kramte die Tüte hervor und entfernte das corpus delicti, wobei Nadeschda ihren Ekel nur mühsam verbarg und jetzt erst, rückwirkend, ärgerlich wurde, dass er ihr den Hund verschwiegen hatte: Immerhin hätte sie allergisch oder hundepanisch sein können.
Sie ging mit ihm bergauf und schnaufte, denn wer sich erhöhte, der würde erniedrigt werden, und wer schon niedrig war, fiel weich nach oben. Er zitierte die Bibel. Wer sein Leben behielt, der würde es verlieren im Treibsand der Nichtigkeit. Wer rief, der klopfte an. Dem Specht wurde aufgetan. Wundbunt lachte er, oben am Hang. Des Mannes Ohrläppchen waren zu klein. Kein Mensch war ganz trocken dahinter, dachte sie, egal, wie alt – manchmal schien ihr, als werde die Feuchtigkeit hinter den Ohren mit den Jahren eher mehr, nicht weniger.
Im Gespräch schluckte sie sich leer an ungestellten Fragen und wartete auf Antworten, die keine neuen aufwarfen. Was sagte man? Was sagte man nicht? Bald hielt sie den Mund und ließ ihn reden. Ganz träge wurde sie dabei, als könnte die Trägheit die Enttäuschung sedieren. Nadeschda war geübt darin, gute Miene zum berührungslosen Spiel zu machen, aber gern spielte sie es nicht.
Er zögerte, den vorgeschriebenen Weg zu gehen vom Wort zur Hand zum Kuss, und dann war der Augenblick vorüber, und er merkte gar nicht, dass Nadeschda nicht mehr reden wollte, sondern gehorchen. Den Körpern gehorchen. Sie fand, dass das ein angemessen niedriger Anspruch war. Doch seine Hände bewegten sich flatterig, seine Arme zitterten dünn, sein Lächeln war unsicher, sein Körper lauerte nicht mal. Stattdessen erklärte die Zunge in seinem Mund ihr, dass er gern Süßgebackenes mochte, dass er am Abend wenig aß und morgens früh aufstand.
Die Nachtigall erklärte den Tag für beendet, doch Nadeschda blieb noch eine Weile und starrte sich ins Herz. Wie ein blinder Spiegel blakte es, weil Einsamkeit füreinander nicht reicht.
Schließlich lag sie, keine Ahnung wie, am nassen Boden vor dem Bahnhof und hörte ihr Herz gegen die Graswurzeln pochen, als würde ihm aufgetan. Auf dem Rückweg weinte sie alle Tränen der Feigheit – es waren einige – ins verknüllte Tuch und hörte auf, sich zu schämen für alles und nichts und für die schmatzende, platzende Hoffnung, als wäre es ihre Pflicht, das Glück unter Kiefern zu suchen und nichts als staubigen Regen zu finden.
Der wusch die Schlieren fort. Nur die Steine glänzten.
(Katharina Körting war 2024 Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt)