4. Platz Putlitzer Preis® 2022
Jablonsky wird davon wach, dass er Hunger hat. Der Mond scheint ins Zimmer, es ist drei Uhr zwölf. Soll er mitten in der in die Küche gehen, um sich etwas zu essen zu holen? Nein, dafür ist er viel zu müde. Mit einem tiefen Seufzer dreht er sich auf die andere Seite und versucht, die Leere in seiner Magengegend zu ignorieren. Als sein Magen wenig später mit einem empörten Knurren protestiert, muss er einsehen, dass er zu hungrig ist, um wieder einschlafen zu können. Und außerdem ist sein Mund ganz trocken.
Jablonsky knipst die Nachttischlampe an, schlurft in die Küche und trinkt ein Glas kaltes Wasser. Sein neuer Single-Schnellkochtopf mit dem klangvollen Namen Revolution fällt ihm ins Auge. Frau Lohmüller von gegenüber hat ihm den Topf neulich geschenkt. Ihre zittrige Stimme klingt ihm noch im Ohr: „Das ist ein Komfort-Single-Dampfdrucktopf. Er ist extra klein. Und Sie sind doch Single. Er heißt Revoluhschen. Wissen Sie, ich halte nicht viel von Revolutionen. Ich bin schon froh, wenn es bleibt, wie es ist. Meine Tochter hat mir diese Höllenmaschine geschenkt. Ich komme damit nicht zu Rande. Nehmen Sie ihn, die Bedienungsanleitung ist drin. Viel Freude damit.“
Jablonskys betrachtet sein Spiegelbild im Chrom des Dampftopfs, schmal und lang ist es, und es sieht verschlafen aus. Ich könnte ihn mal ausprobieren, denkt er, öffnet den Deckel mit dem Bajonettverschluss, fischt die Gebrauchsanleitung aus dem Inneren des Dampfdrucktopfs und blättert darin herum. Es scheint nicht besonders kompliziert zu sein, auch wenn ihm die Sache mit dem Druck nicht so ganz geheuer ist.
Im Kühlschrank findet er eine erstaunlich große Kartoffel. Er lässt die vorgeschriebene Menge Wasser in den Topf, gibt Salz dazu, legt die Kartoffel hinein und stellt den Dampfdrucktopf auf den Herd. Dann setzt er sich. Aus sicherer Entfernung beobachtet er das Ungetüm, es faucht und zischt, der rote Druckanzeigestift hebt sich aus der Deckelmitte immer weiter in die Höhe und zeigt an, dass Temperatur und Druck im Inneren des Topfes steigen. In dem Topf sind es jetzt weit über hundert Grad, wie ihm die Gebrauchsanleitung verrät. In nur zwölf Minuten soll die Kartoffel gar sein, kaum zu glauben. Eine Kartoffel dieser Größe hätte normalerweise sicher fünfunddreißig Minuten Garzeit benötigt.
Jablonsky stellt einen Teller bereit, Messer, Gabel, Butter und Salz. Nach genau zwölf Minuten lässt er den Topf unter fließendem Wasser abkühlen und öffnet ihn unter beträchtlichem Zischen. Die Kartoffel sieht gut aus. Er befördert sie auf den Teller und schneidet sie durch. Sie ist perfekt. Goldgelb und dampfend liegen die beiden Hälften da. Er lässt Butter darauf schmelzen, streut Salz darüber und probiert. Köstlich. Jablonsky isst mit geschlossenen Augen, kaut langsam und ausgiebig. Nachdem er die Kartoffel aufgegessen hat, fühlt er sich gut.
Jablonsky geht wieder ins Bett und löscht das Licht. Nun ist er satt, aber müde ist er nicht mehr. Mittlerweile ist es vier Uhr fünfzwanzig. Hätte er die Kartoffel in einem gewöhnlichen Topf gekocht, wäre sie jetzt immer noch nicht gar. Dreiundzwanzig Minuten hat er eingespart. In seinem Kopf fängt es an zu rechnen: Wenn alle sieben Milliarden Menschen dieser Erde mit Dampfdrucktöpfen kochen würden, was würde die Menschheit da an Zeit einsparen? Nur mal angenommen, im weltweiten Durchschnitt würden jeweils fünf Personen ihre tägliche warme Mahlzeit gemeinsam einnehmen, dann hieße das, dass die Weltbevölkerung mit Hilfe von 1,4 Milliarden Dampfdrucktöpfen sämtliche warme Mahlzeiten eines Tages zubereiten könnte. Jeder dieser 1,4 Milliarden Dampfdrucktöpfe würde der Menschheit also dreiundzwanzig Minuten pro Tag einsparen. Das wären zusammengenommen – er überschlägt es im Kopf – mehr als fünfunddreißig Milliarden Minuten. Umgerechnet wären das sage und schreibe an die siebzigtausend Jahre Lebenszeit. Täglich. Zeit, in der die Menschen wichtigere Dinge tun könnten als zu kochen, sinnvollere Dinge. Sie könnten sich um den Weltfrieden kümmern, um Bildung für alle, um die Welternährung. Die Entwicklung der Menschheit würde rasant voranschreiten. Und es bliebe trotzdem noch genug Zeit für die schönen Dinge des Lebens. Zeit, um spazieren zu gehen zum Beispiel. Um Briefe zu schreiben. Oder ein Instrument zu lernen.
Oder um nichts zu tun, denkt Jablonsky.
Rein gar nichts.
Jablonsky spürt, wie ein Gähnen in ihm aufsteigt.
Oder um zu schlafen, denkt er.
Kurz darauf ist er eingeschlummert.