Dirk Bernemann: Kurze Analyse der Gegenwart

2. Platz Putlitzer Preis® 2024

Ich sitze in der Bahn, alle gucken nach unten, alle neigen ihre Köpfe, es riecht so sehr nach Mensch, dass man sich wünscht, keiner zu sein. Kollektive Depression. Und zwischen zwei Stationen auf der Suche nach Antidepressiva. Der auf das Smartphone gesenkte Blick, die Leuchtkraft, die zurückstrahlt, beides zerreibt alle Zwischengefühle zu Staub. Katastrophen, Ekel, Missgunst, dazwischen synchronisierte Katzen und Kinder, die von Schaukeln fallen. Dann wieder Katastrophen, Ekel, Missgunst. Das Elend der Welt strahlt vom Display durch unsere Netzhäute und geschmeidig liegt das Gerät in unseren gepflegten Händen, zusammengeschraubt von zusammengepferchten, chinesischen Fabrikarbeitern. Giftige Lacke, 180 Überstunden, Hungerlohn, Shoutout nach Shenzen. Aber dann sind wir es, die behaupten vom Leben überfordert zu sein, so sehr sogar, dass wir uns in Watte packen müssen, um die Außenwelt abzumildern. Wir schorlen den Saft der Realität, damit wir nicht übersäuern. Wir gucken nach unten. Alle.

Ablenkung um jeden Preis, weil die ganzen Fragmente des Weltgeschehens ansonsten nicht auszuhalten wären. Wir leben in einer Zeit, in der jeder Winkel der Welt medial durchleuchtet scheint, wir haben das Gefühl totaler Gleichzeitigkeit aller Ereignisse. Alle Events können ungefiltert in unseren Kopf bumsen und tun es auch, weil wir sie nicht aufhalten. Deswegen Candy Crush, TikTok, Instagram, alle paar Sekunden was Neues. Und wieder Katastrophen, Ekel und Missgunst, durchbrochen von den schönsten Toren der Saison 22/23, Hunden, die sich schämen und bunten Papageien, die ihre Gefühle zu komplexen Sachverhalten in komprimierter Form darlegen, indem sie FUCK YOU, FUCK YOU, FUCK YOU brüllen. Technische Weiterentwicklung war vielleicht an manchen Stellen doch ein Rückschritt. Die Papageien scheinen das zu wissen, sie hören einfach nicht auf zu schreien, die ganze Natur schreit ohnehin permanent. Werner Herzog hat gesagt: The birds are in misery, I think they don´t sing, they just screetch in pain. Der lustige Papagei brüllt FUCK YOU, FUCK YOU, FUCK YOU. Dann ein bisschen Schamgefühl, nützt aber nichts, die Reise geht weiter.

Etwas weiter entfernt, trotzdem unerreichbar, eben jene Katastrophen, von denen irgendwann, nach kürzester Zeit, alles gleichmäßig weh tut. Weil der Mensch eben auch nur ein gewisses Maß an Schmerz ertragen kann, fühlt sich bald alles gleich an, Bundesliga, Kriegsversehrte, Promitod, schau, was mein Baby für ein lustiger Mensch ist. Unsere Körper bestehen aus reiner Haut, mit vereinzelten juckenden Stellen, macht aber nichts, gibt’s Salbe drauf, Candy Crush, TikTok, Instagram, unsere Hirne folgen dem schnellen Takt der Informationen und verknoten sich in Desillusion und Unruhe. Dagegen gibt es eine App, die uns mit Meeresgeräuschen beschallt, es geht ein seichter Wind, um uns wieder zu beruhigen, aber da ist kein Meer, da ist nur die Illusion einer Insel im Gewimmel.

Komm, Telekommunikationsendgerät, schick Dopamin in unsere Körper, füll uns auf mit dem digitalen Smoothie, den du uns täglich aufbereitest und schenke uns außerdem die Selbsttäuschung, die Utopie, die Version, den kleinen Wahn zwischendurch, das Wunschdenken und die Fantasievorstellung, dass wir immer noch über den Dingen stehen.

Netflix, unterhalte mich ein bisschen, bleib immer unter dem Niveau, das ich eigentlich verdient hätte, damit ich irgendwann dankbar bin für den ganzen Schrott, den du als kluges Entertainment anbietest.

Pornhub, mach mich ein bisschen geil, zerstöre meinen Glauben, was Körperfunktionen betrifft und zeig mir, was Begehren ist, zeig mir nie, was Zärtlichkeit ist, entfremde mich von jedweder Sinnlichkeit, danke, bitte, ciao.

Tinder, lass mich hoffen, lass alles offen, lass mich wie das letzte Stück Scheiße fühlen, weil ich nicht am Strand hüpfe oder vor meinem Sportwagen pose, lass uns verbleiben, wie wir waren, als es dich noch nicht gab, ignorant as fuck.

Lieferando, schmeiß mir Junkfood in die Bude, apportiert von Leuten mit riesigen Rucksäcken, die ich manchmal erschöpft an Ampelkreuzungen sehe und die noch lange nicht fertig sind, obwohl sie schon lange fertig sind.

Spotify, zeig mir meine unbefriedigte Sehnsucht nach einem guten Musikgeschmack, den ich vorgebe zu haben, obwohl du ihn mir gezeigt hast, und jetzt habe ich deinen, inspiriert von meinem und das wäre gut, wenn es nicht total falsch wäre.

Youtube, hör auf. Einfach so. Dann schau, was passiert und ich glaube, es wird besser sein als das, was davor war.

Instagram sagt mir immer, ich sei nicht genug, obwohl ich vollständig bin, gerade Sätze spreche und schreibe und vollständige Gedanken äußere, aber DU MUSST UNZUFRIEDEN SEIN, brüllt mich die App von der Seite an und ich sage JA, OK, WEN SOLL ICH JETZT HASSEN?

Der lustige Papagei brüllt FUCK YOU, FUCK YOU, FUCK YOU.

Und Instagram sagt: FANG BEI DIR SELBST AN.

Die Bahn klappert und jemand schreibt einen Gedanken in das Internet und dieser Gedanke lautet: „Gerade war ich dergestalt traurig, dass meine FACE-ID mich nicht erkannt hat.“

Dann dämmere ich weg, ganz sanft, mein Gehirn zerfällt in mehrere unansehnliche Einzelteile, ich höre einen Podcast mit super witzigen Leuten, die über Dinge reden, die ich, während sie sie aussprechen, bereits vergessen habe, gehe nach Hause, bestelle eine Box mit warmen Essen, der Lieferandomann ist freundlich, er stellt keine Fragen, ich bin auch freundlich, ich stelle auch keine Fragen. Bei Tinder habe ich kein Match, ich mache ein Selfie auf dem ich laut lache, was das Allerschlimmste und Allertraurigste ist, denn Menschen, die auf Selfies laut lachen, die würden auch auf Selfies laut lachen. Hahaha, und so weiter. Dieses Selfie poste ich auf Instagram. Darunter schreibe ich: Heute war ein schöner Tag, hoffentlich wird morgen auch einer.

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