6. Platz Putlitzer Preis® 2023
Sir Archibald Richardson hatte das, was er am meisten liebte, nämlich seine Ruhe. Er lebte in einem wunderschönen, etwas abseits gelegenen Landhaus, umgeben von einem Park. Eine Haushälterin kümmerte sich um alles und besprach nur das Nötigste mit ihm. Ein stummer Hund blickte freundlich zu ihm auf und lief im Übrigen auf dem großen Gelände herum und bedurfte keiner besonderen Aufmerksamkeit.
Der alte Mann widmete sich seiner Bibliothek, oder aber er saß dort in seinem Sessel und hörte über eine überaus moderne Musikanlage, die nicht zu dem übrigen Ambiente passen wollte, Opern und Konzerte.
Dieses geruhsame Leben war auf einmal gestört.
Die Störung bestand aus der Ankündigung seiner Tochter, dass sie alsbald mit ihren Geschwistern, deren Anhang und deren schon erwachsenen Kindern zu Besuch kommen werde, um nach ihm zu sehen. Sie erwartete offensichtlich nicht seine Zustimmung.
„Sie wollen nicht nach mir sehen, sondern nach ihrem Erbe“, dachte Sir Richardson und begann zu überlegen, was er machen könnte, um die ungewollte Gesellschaft so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Und wie immer, wenn er sich einem Problem gegenübersah, bestellte er sich nach längerem Grübeln einige Bücher, die er intensiv studierte. Während er sich fast nur noch in seiner Bibliothek aufhielt, hörte man ihn auch immer mal wieder dort herumgehen und Selbstgespräche führen. Die Haushälterin und der Hund machten sich Sorgen.
Die Sorgen der Haushälterin nahmen noch zu, als Sir Richardson ihr mitteilte, wie das Essen für den Besuch auszusehen hätte: einen großen Topf eines Gemüseeintopfs, der fein püriert werden sollte, keinen Kuchen und auch sonst nichts. Damit sei alles vorbereitet.
Seine Kinder und Schwiegerkinder kamen mit seinen Enkeln und mit einigen ihm unbekannten Kindern unterschiedlichen Alters die große Auffahrt hinauf. Die kleineren Kinder liefen sofort im Haus umher und er hörte sie darüber streiten, wer einmal welches dieser Zimmer bewohnen werde. Sie hatten also die Gespräche der Erwachsenen mit angehört.
Der alte Mann stand in der Eingangstür und gab jedem die Hand und murmelte dabei stets ein sehr förmliches Willkommen, ohne jemanden beim Namen zu nennen.
Die Gäste redeten durcheinander und vor allem auf ihn ein. Darauf reagierte er nicht, sondern bat sie, ihm zu folgen, da angerichtet sei. Diese Formulierung führte zu einigem Stirnrunzeln und vor allem seine Kinder sahen ihn erstaunt an. Sie hatten ihn zwar einige Jahre nicht gesehen, aber hätte er nicht etwas herzlicher sein können?
Im Esszimmer war ein großer Tisch gedeckt. Für jeden Gast ein Suppenteller, ein Löffel und ein Wasserglas. Und als alle endlich saßen, kam die Haushälterin herein mit einem riesigen Topf, in dem sich eine grün-braune Suppencreme befand und damit füllte sie reihum jeden Teller. Die Gäste blickten irritiert auf. „Was ist das“, fragten sie und erhielten von der Frau die Antwort, dass es das Gemüse aus dem Gewächshaus sei. Sir Richardson band sich seine Serviette um und ergänzte:
„Und den Hahn habe ich auch mit hineingetan.“
„Den Hahn?“ fragte erschrocken die Haushälterin, „aber wir haben doch keinen Hahn!“
Der alte Mann sah sie verwundert an.
„Kann es die Katze gewesen sein?“
„Wir haben auch keine Katze!“
„Ein Tier war es auf jeden Fall“, meinte der Alte bestimmt, „es musste doch Fleisch ins Essen, schließlich habe ich Besuch …“
Während er zu essen begann, ließen alle anderen ihre Löffel fallen. Die, die schon probiert hatten, suchten ein Badezimmer oder rannten nach draußen. Die Mütter schrien ihre Kinder an, ja nicht von der Creme zu essen. Jeder stellte sich ein anderes Tier vor, das sich in dem Essen befinden könnte. Einige Kinder weinten, weil das Schreien ihrer Eltern sie erschreckt hatte, oder nörgelten, weil sie Hunger hatten. Der alte Mann nippte unbeeindruckt an der Suppe und schenkte dem Geschehen keine Beachtung.
Schließlich fragte ihn einer der Männer, ob er wenigstens etwas Wein haben könne, denn den brauche er jetzt.
Die Haushälterin, der das alles unangenehm war, schließlich ging es auch um ihr Ansehen, nickte und kam mit einer Flasche Rotwein zurück.
„Geben Sie sie mir“, sagte Sir Richardson, „ich will meinen Gästen natürlich selbst eingießen.“ Er erhob sich und das erste Wasserglas, das er füllte, stellte er vor das kleinste Kind. Seine Mutter riss es an sich. Die Frauen drehten hastig die Gläser der Kinder um und machten deutlich, dass sie nichts trinken wollten. So kam er zu dem Schwiegersohn, der den Wein verlangt hatte. „Dieses ist ein sehr guter“, sagte er und goss ihm ein wenig in die Gemüsecreme, was deren Farbton nicht verbesserte. Jetzt standen alle auf und verließen schnellstens das Haus.
Der Alte war ganz offensichtlich verrückt geworden. Manche von ihnen dachten aber auch, nachdem sich der Ärger etwas gelegt hatte, dass das Erbe offenbar näher rückte, wenn er jetzt schon so krank ist.
Sir Richardson wartete, bis Ruhe eingekehrt war. Er saß vor seinem Teller und lächelte.
„Ich hätte jetzt gerne ein kleines Steak mit ein wenig Salat. Und ich denke, der Rotwein passt gut dazu. Und ich danke ihnen für ihre Hilfe …“
Er erhob sich und zog sich in seine Bibliothek zurück.
Er war zufrieden. Er setzte sich in seinen Sessel, und mit geschlossenen Augen ließ er noch einmal das Geschehen passieren.
Er hatte so vieles über das Vergessen im Alter gelesen und sich eingeprägt. Er hatte niemandem gezeigt, dass er ihn wiedererkannte und hatte auch niemals einen Namen genannt. Das hatte er wirklich gut gemacht.
Da merkte er, dass er sich an einige Namen seiner Besucher tatsächlich nicht erinnern konnte. Tatsächlich an die meisten nicht. Sie fielen ihm gerade nicht ein. Deshalb beschloss er, in seinen zuletzt gekauften Büchern ein wenig lesen. Aber wo hatte er sie bloß gelassen?