Christin Habermann: Tote Männer

3. Platz Putlitzer Preis® 2022

Sie ist von toten Männern umgeben.

Sie beobachten, wie sie die kleine Bibliothek der philosophischen Fakultät betritt, an den Regalreihen vorbeiläuft, sich an den Tisch am Fenster setzt, ihren Rucksack auspackt und zu arbeiten beginnt. Buchrücken an Buchrücken stehen sie, die toten Männer, die toten Philosophen. So spät am Abend ist sie oft allein in der Bibliothek, und dann ist es so still, dass sie glaubt, sie flüstern zu hören, und dann gruselt es sie. Nicht, weil die Männer tot sind und ihre Worte wie Geister über die abgegriffenen Seiten huschen, nein. Vielmehr erscheinen sie für einen Moment lebendig, als hätte man nicht nur ihre Gedanken, sondern sie selbst über die Jahre konserviert. Aber das ist Unsinn, das weiß sie. Trotzdem beruhigt es sie, sich ihre Todesdaten ins Gedächtnis zu rufen. Als Frau, denkt sie, ehe sie sich wieder ihrer Arbeit widmet, lernt man früh, sich vor Männern in Acht zu nehmen. Und wenn man es nicht früh lernt, dann lernt man es spät. 

Das Nichts, schreibt Heidegger, ist Angst.

Sie ist von toten Männern umgeben und fühlt sich sicher.

Tote Männer ignorieren sie, nehmen ihr Lächeln, ihre Kleidung, ihre bloße Anwesenheit nicht als Einladung oder Einverständnis. Tote Männer rücken in der Straßenbahn nicht nah an sie, fragen so bestimmt nach ihrer Nummer, dass sie ihnen eine falsche diktiert und dann zwei Stationen zu früh aussteigt, einen Umweg nach Hause nimmt, den Schlüssel schon aus der Tasche holt, lange bevor sie an der Haustür angekommen ist. Tote Männer bewirken nicht, dass sie sich selbst in ihrer Wohnung manchmal unsicher fühlt, nie bei geöffnetem Fenster schläft, ein doppeltes Schloss an der Tür hat und ihrem Vermieter ebenso misstrauen muss wie dem Elektriker und dem Paketlieferanten. Tote Männer sorgen nicht dafür, dass sie nie im Dunkeln joggt, dass sie niemals zu viel trinkt, auf Partys oder in Bars ihr Getränk nicht für eine Sekunde aus den Augen lässt, dass sie nie allein verreist, schon gar nicht in abgelegene Orte, dass sie Autobahnraststätten meidet, Parkhäuser, U-Bahn-Stationen, Taxis, Treppenhäuser, Aufzüge.

Das Nichts, schreibt Sartre, bestimmt das Sein

Sie ist von toten Männern umgeben und fühlt sich sicher und es ist ein Fehler.

Denn hundert tote Männer können einem einzigen lebenden nichts entgegensetzen. Tote Männer überraschen sie nicht in der Bibliothek, die längst geschlossen hat, aber für die sie von ihrem Doktorvater einen Schlüssel erhalten hat. Tote Männer sind keine Doktorväter, die für diesen Schlüssel eine Gegenleistung erwarten. Tote Männer sagen ihr nicht, dass sie klug ist und schön, und meinen, sie hätten damit das Recht, ihr über den Arm zu streichen, erst sanft, dann bestimmt. Tote Männer sagen ihr nicht, dass sie Potential hat und selbst einmal an der Universität lehren könnte, und meinen, sie hätten damit das Recht, ihr unter den Pullover zu fassen. Tote Männer lähmen sie nicht, vor Überraschung und Angst und Scham. Tote Männer lassen sie nicht glauben, dass es vielleicht ihre Schuld ist, dass sie alles falsch gedeutet, die falschen Signale gesendet hat, dass er vielleicht wirklich das Recht dazu hat, ihr den Rock über die Hüften zu schieben, die Strumpfhose in die Knie, sie mit dem Gesicht auf den Tisch zu drücken, auf das Buch, in welchem sie gerade noch gelesen hat, und sie hofft, dass ihre Tränen die Tinte nicht verwischen. Und noch während es passiert, während er auf ihr ist und in ihr, während sie sein Leben spürt, dass sich an ihrem labt, erkennt sie, dass sie unlängst auf diesen Tag gewartet hat, auf diese Nacht, auf dieses Ereignis. Nicht hier, nicht jetzt, nicht so. Aber irgendwo, irgendwann, irgendwie.

Das Nichts, schreibt Kant, ist etwas Abwesendes, dessen Anwesenheit erwartet wurde.

Nach diesem Abend wird sie sich nicht mehr sicher fühlen.

Sie wird nicht in die Bibliothek zurückkehren. Sie wird nicht wissen, dass die Tinte verwischt ist, dort, wo sie geweint hat, und dass sie im nächsten Kapitel die Antwort gefunden hätte, nach der sie seit Wochen gesucht hat, das eine Zitat, welches ihre These belegt hätte. Sie wird nicht wissen, dass sie ihre Promotion erfolgreich beendet hätte, dass eine Habilitation gefolgt wäre und später dann ein eigener Lehrstuhl. Und sie wird nicht wissen, dass sie nicht die erste Promovendin ist, die einen Schlüssel für die Bibliothek erhalten hat, eine Einladung, die ein Einverständnis vorwegnahm, und auch nicht die letzte. Sie wird sich die Schuld geben, sich Vorwürfe machen. Dass sie so spät in der Bibliothek war, dass sie nicht deutlich genug Nein gesagt, sich nicht stark genug gewehrt, nicht laut genug geschrien hat. Sie wird wissen, dass es falsch war, Unrecht, aber sie wird nichts sagen, weil ihr Wort gegen seines steht und das Wort eines Mannes, ganz gleich ob tot oder lebend, noch immer mehr Gewicht hat. Stattdessen wird sie die Bücher der toten Männer, die auch in ihrer Wohnung in den Regalen stehen, noch in derselben Nacht wegwerfen. Weil sie das Gefühl hat, dass sie zugesehen haben , ohne etwas zu sagen, ohne etwas zu tun. Weil sie zwar tot sind, aber noch immer Männer.

Das Nichts, schreibt Derrida, ist Schweigen.

Was ist passiert, werden sie fragen, ihre Kommilitonen, ihre Eltern, ihre Freunde, wenn sie nicht mehr in die Bibliothek geht, ihre These nicht verifiziert, ihre Promotion nicht beendet, die Universität verlässt und später auch die Stadt.

Was ist passiert?

Nichts.

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