Brigitte Tuchborn: Himbeerrot

4. Platz Putlitzer Preis® 2024

Ganz klar: Die Farbe war`s!

Die Farbe, die uns alle überraschte. Die, aus einer Laune heraus aufgetragen, blieb bis zum Schluss.

Als meine Mutter im Sterben lag, badete ich noch einmal ihre Hände, und cremte sie bewusst ein. Es gibt sicher Menschen, die denken, dass sie davon nichts mehr mitbekam, doch ich war ihr selten so nah wie an diesem Nachmittag. Meine Finger verabschiedeten sich von den ihren, streichelten noch einmal die Schwielen, umkreisten zart die Rheumaknoten, die endlich nicht mehr schmerzten. Zuletzt hielt ich erst die eine, dann die andere Hand für einen langen Moment zwischen meinen Händen, so als ob ich sie noch einmal wärmen wollte.

Ich stellte mir vor, dass meine Hände eine Muschel seien, ihre die Perle. Für mich ein wichtiger Teil des Rituals, das uns beide Nähe geschenkt hatte, die wir so nie gelebt hatten.

Ich schnitt ihr die Fingernägel, und trug die Farbe auf. Sie würde mit frisch lackierten Nägeln ihren längst verstorbenen Ehemann wiedersehen. Die Vorstellung ließ mich lächeln. „Schau mal, wie schön“, würde sie ausrufen, und ihm die Hände entgegenstrecken. Und er würde strahlen, nicken, und sie in die Arme nehmen.

„Jetzt bin ich auch schön“, sagte sie, als ich ihr drei Jahre zuvor zum ersten Mal die Nägel lackierte.

Knalliges Himbeerrot, es war schließlich Altweiberpartynachmittag im Bingosaal in dem Altenheim, in dem sie seit einem halben Jahr lebte.

Ich, Karnevalsmuffel, kam zu Besuch und traf sie in heller Aufregung an.

Alle kämen verkleidet und sie hätte nichts, gar nichts, und dann dürfte sie sicher nicht mit von der Partie sein. Die alten Zwänge standen ihr auch in der Demenz lange treu zur Seite.

Also zog ich los, erstand irgendeinen Fummel, der sofort in Vergessenheit geriet, und landete den Volltreffer meines Lebens.

„Jetzt bin ich auch schön“. Sie konnte den Blick nicht lösen, legte die Handflächen auf den Tisch und begutachtete die Pracht – und ich rang um Fassung.

Da saß die alte Bauersfrau, die ihr ganzes Leben geschuftet hatte, und immer auf saubere Fingernägel (bei allen Familienmitgliedern!) geachtet hatte.

Farblosen Nagellack hatte sie besessen, mit dem sie die Laufmaschen in ihren Feinstrumpfhosen stoppte.

Farbe war nicht drin.

Bunte Nägel gestand sie sich nicht zu, auch nicht für einen Abend.

Zu aufwändig. Spätestens am nächsten Morgen im Stall, hätten sich die ersten Risse gezeigt, wäre Farbe abgeblättert, hätte sie sich womöglich schmerzhaft davon verabschieden müssen.

Das, was ich nie geahnt, worüber ich mir auch nie Gedanken gemacht hatte, ja, was sie sich selber womöglich auch nicht eingestanden hätte. Die Farbe fehlte. Sie zeigte ihr ein Leben lang, was nicht möglich war, was sie von den anderen Frauen unterschied, auch wenn sie noch so viel Wert auf Körperpflege legte.

Und nun das. Mit den himbeerroten Fingernägeln setzte eine Wandlung bei ihr ein. Ich hätte erwartet, dass sie, wie immer, zu dem für sie vorgesehenen Platz ging. Und dort, auch wie immer, freundlich, und unauffällig sitzen blieb.

Weit gefehlt. Sie lief zu den Mitarbeitern und den Bewohnern, die sie kannte, streckte ihnen die Hände entgegen, lachte und redete auf sie ein. Sie strahlte, drehte sich, die Finger immer gespreizt vor dem Körper. Ich stand staunend an der Eingangstür, zuckte die Schultern, wenn mich fragende Blicke trafen.

Kaum war sie zu bewegen, sich hinzusetzen, so aufgeregt war sie.

Und den ganzen Nachmittag stieß sie mich immer wieder an, hielt kurz die Hände hoch und nickte mir begeistert zu.

Die Freude, ja die Lust an ihren himbeerroten Fingernägeln blieb.

Bei jedem Besuch lackierte ich sie neu. Wir probierten auch dezentere Farben aus. Das ließ sie zu, betrachtete abschließend mein Werk, nickte anerkennend und sagte: „Und jetzt die richtige Farbe“.

Wir feierten beide das Himbeerrot. Sie feierte ihre Schönheit, die sie im weiteren Demenzverlauf jedem unter die Nase hielt. Ich feierte ihre Freude daran.

Und was mindestens genauso wichtig war: Über die Farbe, die sich daraus entwickelte Manikür-Zeremonie, fanden wir einen neue Möglichkeit, uns zu begegnen, einen neuen Weg, uns ohne Worte nah zu sein.

Welch ein Geschenk, dass uns beiden durch Zufall gewährt wurde.

Im letzten Bericht des MDK stand, dass Fr S weder zeitlich, örtlich noch zur Person orientiert sei. Sie wusste nicht, ob sie schon zu Mittag gegessen hatte, oder welchen Tag wir hatten. Doch sie zeigte der Mitarbeiterin ihre schönen Nägel, die ihr ihre Tochter immer lackierte.

Muss ich noch erklären, warum Himbeerrot zu meinen Lieblingsfarben gehört?

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