Aylin Ünal: Der Staub in den Fugen

2. Platz Putlitzer Preis® 2022

10:30 Uhr, Akkustand: 100 %

Wir können nie sagen, ob wir erst die Augen aufschlagen und dann realisieren, dass wir wach sind, oder ob wir erst realisieren, dass wir wach sind und dann die Augen aufschlagen. Wir versenken das Gesicht im Kissen, um zurück in den Schlaf zu tauchen, doch es riecht nur nach Staub und wir sollten mal wieder die Bettwäsche wechseln. Wir überlegen, ob es ok ist, dass der Wecker nicht geklingelt hat, wir überlegen, welcher Tag heute ist und ob uns die Antwort gute Laune macht. Wir richten den Oberkörper auf und die Welt um uns herum arrangiert sich um 90 Grad neu.

Unter der Dusche stürzt das Wasser auf uns herab und spült uns den Dreck aus den Augen aus dem Sinn. Wir planen unseren Tag oder vielleicht plant er uns. Neben den Uhrzeiten entstehen Buchstaben, fein säuberlich sortiert. Jeder Morgen ist wie der Urknall, immer wieder von vorn abgespielt: Davor ist nichts und danach ist alles.

Und am nächsten Tag das Gleiche, aber das sind Gedanken für morgen.

12:02 Uhr, Akkustand: 89 %

Wir scrollen durch die Nachrichten, nur mit einer kleinen Bewegung unseres Fingers wischen wir die Probleme der Welt zur Seite, wir wissen, dadurch sind sie nicht weg, sie sind nur woanders. Mit einem Knopfdruck verschwinden sie hinter dem schwarzen Bildschirm und warten geduldig, bis wir bereit für sie sind. Wie wir die Welt sehen, sagt mehr über uns aus als über die Welt. Und wir spüren nur ein dumpfes Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung ist. Doch das Gefühl verweilt nie, denn der Himmel strahlt, als würde er uns alles verzeihen, der Boden fühlt sich an, als würde er uns ewig tragen, der Regen spült den erbrochenen Samstagabend fort und die Müllabfuhr ist Montagmorgens besonders laut. Der Lavendel blüht beständig zur gleichen Jahreszeit und die Bienen kehren jedes Jahr zurück. Es gibt Essen zu jeder Zeit und die Tagesschau immer zur gleichen Zeit. Doch wen interessiert es wirklich, was damals am Strand von Algier geschah?

15:10 Uhr, Akkustand: 77 %

Wir denken, wir kennen die Temperatur der Welt, wir sind uns einig, dass sie ein oder zwei Grad zu hoch ist, aber je mehr Eis man leckt, desto es wird schon nicht so schlimm, desto es wird schon jemand richten. Mut ist die Sorte Knoblauch-Basilikum probieren, Rebellion ist nachts die Tagescreme aufs Gesicht schmieren, Flexibilität ist mal eine andere Suchmaschine nutzen. Wir wollen Kaffeebecher wiederverwenden, aber nur wenn es Rabatt gibt, wir wollen mehr Bahn fahren, aber nur wenn es keine Umstände macht, wir wollen weniger online bestellen, aber dann bleiben wir doch lieber auf dem Sofa sitzen. Und „Ladies first“ gilt sowieso nur für das Durchschreiten von Türen.

16:05 Uhr, Akkustand: 72 %

Im Café bestellen wir einen Cappuccino, wir trinken ihn langsam und wir mögen die Landschaft, die der Milchschaum in der Tasse hinterlässt. Wir nehmen ein Mineralwasser dazu und wenn wir die Finger um das Glas schließen, spüren wir die aufsteigenden Wassertröpfchen auf unserem Handrücken, auch das mögen wir. Sie legen einen Film über unsere Haut, als könnten sie uns beschützen, während wir auf Superman warten, der uns vor dem Chaos retten soll, das wir angerichtet haben. In der Vergangenheit bauten wir Mauern, die wir erst bemalten und später zum Einstürzen brachten, und deren Fotos wir in Geschichtsbücher drucken.

19:45 Uhr, Akkustand: 58 %

Wir versuchen, die Probleme vom Thron unseres Schreibtischstuhls aus zu lösen, wir versuchen, die Welt von der Höhe unseres Sofas aus zu verstehen. In uns allen steckt ein Entrepreneur, wir müssen ihn nur finden, wir sind busy am Träumeverwirklichen, wir trinken viva con agua und Bio-Rharbarbarschorle und finden, es schmeckt nach Weltverbesserung. Mit jedem Klick und jedem Like nähern wir uns der Welteroberung, wir sind 7,8 Milliarden Brains. Wir könnten Windräder bauen, die jeder in seinem Backyard haben will, wir könnten Steckdosen erfinden, die keine Kindersicherung brauchen, und eine Heilung für Menstruationsbeschwerden finden. Glücksspiele wären abgeschafft, Keksdosen wären immer gefüllt, wir bräuchten keine Vorhänge mehr, denn wir würden uns nicht länger schämen. Es könnte so schön sein.

22:03 Uhr, Akkustand: 41 %

Wir tun so, als gäbe es sie alle nicht, den Mann, der im Hauseingang liegt, den Mann, der uns in der Bahn die Hand und ein Schild hinstreckt, die Frau, die ihr Kind hinter sich her zieht und fremde Worte murmelt, während ihre Augen nach etwas in uns suchen, das sie versteht.

1:20 Uhr, Akkustand: 20 %

Wir können nicht sagen, ob die Musik uns bewegt oder wir die Musik bewegen. Wir stürzen durch die Klänge, bedecken unsere Körper damit, hüllen uns ein und schütteln die Töne im nächsten Moment wieder ab. Ein Glas nach dem anderen kühlt unsere Hitze von innen, steigt uns zu Kopf und vollführt Tänze zu eigener Musik. Der Rhythmus bricht, die Fassade bröckelt, die Schwärze kriecht von den Rändern auf uns zu, unser Sichtfeld schrumpft zu einem Tunnel und dann begegnen wir dem Nichts.

03:55 Uhr, Akkustand: 6 %

Wir haben alle schon einmal auf dem Boden unseres Badezimmers gesessen und uns gefragt, wie es so weit kommen konnte. Auf dem Boden ist man dem Abgrund am nächsten, da hat man den Kontrollverlust schon hinter sich. Die Welt ist auf die Größe unseres Badezimmers geschrumpft und wir bemerken Muster auf der Badematte, die wir vorher nie gesehen haben. Die Fugen zwischen den Fliesen sind mit viel Liebe und Detail angefertigte Kunstwerke, die wir im Alltag verstauben lassen. Wir sind schlechte Kuratoren unseres Lebens. Wir sitzen dort und denken über die Welt nach, die wir gerade nicht sehen können, denn wir haben die Tür hinter uns zugeknallt und jetzt fühlt sich das Draußen noch weiter weg an. Warum haben wir die Lügen anderer Menschen geglaubt und selbst welche erzählt, warum waren wir nicht besser als andere, und warum waren die Generationen vor uns noch schlechter? Die Zeit heilt keine Wunden, sie fügt nur neue hinzu, die stärker schmerzen. Der Boden der Tatsachen ist gefliest und in seinen Fugen klebt Staub.

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