Antje Lehbrink; Die alte Guhse

3. Platz Putlitzer Preis® 2023

Die Leute sagen, dass die alte Guhse einen Haschmich hat. Mein Vater sagt das auch. Ich kenne niemanden außer der Guhse, der einen Haschmich hat. Das ist irgendwie aufregend.

Die Guhse wohnt in einem kleinen Haus unten an der Straße. Eigentlich ist es weiß, aber die Farbe bröckelt überall herunter, und darunter ist es mausegrau. Das Dach ist rot, und es gibt einen Garten, in dem alles kreuz und quer wächst. Büsche und Bäume und Gras ohne Ende.

Mein Vater kann das nicht mit ansehen. „Die gehört doch ins Heim, die alte Schachtel“, sagt er immer, wenn wir da vorbeifahren.

In unserem Garten gibt es nur Gras. Und das ist nie länger als drei Zentimeter. Wenn es einen Millimeter länger wird, holt mein Vater den Rasenmäher raus. Das machen hier alle so.

Ich glaube, am liebsten würde er unseren Garten auch noch kämmen. Und dann würde er am Fenster aufpassen, dass niemand ihn betritt.

Die Guhse steht auch oft am Fenster. Aber ich glaube nicht, dass sie ihren Garten bewacht. Sie guckt meistens in den Himmel.

Einmal, als ich mit meiner Freundin Anni mit dem Skateboard herumfahre, steht die Guhse am Gartentor. „Guck mal, die alte Schachtel“, flüstere ich der Anni zu und halte an.

„Guten Tag“, sage ich zur alten Guhse.

„Guten Tag“, sagt sie zurück. „Ihr habt zwei schnelle Bretter.“

„Ja“, antwortet die Anni, „meins ist noch schneller als Emmas.“

„Das hab ich gesehen“, nickt die Guhse.

„Das liegt nicht am Brett“, sage ich. „Das ist, weil ich kürzere Beine habe. Ich muss viel öfter Schwung holen als die Anni.“

Die Guhse grinst. Sie hat ganz blaue Augen. „Das kann wohl sein“, sagt sie.

Dann stehen wir eine Weile herum.

„Das ist Herr Schmidt“, sagt die Guhse und zeigt auf einen schwarz-weißen Kater. Man sieht nur seinen Kopf, wegen dem Gras in ihrem Garten.

Ich lache. „Der läuft überall rum. Ich nenne den Tommie. Ich lasse ihn rein, wenn mein Vater nicht da ist.“

Die Guhse denkt nach. „Also heißt er Tommie Schmidt.“

Dann kratzt sie sich an ihrem Kinn. Aus dem Kinn wachsen ein paar Haare. „Und wenn dein Vater da ist, muss Tommie Schmidt draußen bleiben?“

Ich lehne mein Skateboard gegen ihren Zaun.

„Ja. Weil er in den Garten kackt. Und überhaupt“, sage ich.

„Meine Mama mag irgendwie nur unsere Katze“, erklärt die Annie.

„Und wie heißt eure Katze?“, fragt Frau Guhse.

„Die heißt Cordula.“

„Hat sie auch einen Nachnamen?“

Anni schüttelt den Kopf. „Nein. Einfach Cordula. Wie die Mama von meiner Mama.“

Die Guhse guckt eine Weile in den Himmel. Dann sagt sie:

„Ich hab Kuchen. Und Kaffee.

„Wir trinken keinen –“, sagt die Anni.

„Kaffee ist super“, sage ich schnell.

Die Anni zuckt die Achseln und lehnt ihr Skateboard neben meins. Dann gehen wir mit der Guhse ins Haus.

Wir gehen sechs Stufen hoch und durch eine kleine grüne Tür.

Wir kriegen die Tür kaum auf, weil überall Sachen liegen. Möbel und Uhren und komische Figuren. Aber in der Mitte ist ein Weg frei. Wie ein Pfad durch einen Dschungel.

„Das sind Sachen von meinem Mann“, sagt die Guhse.

Wir biegen an der Kreuzung rechts ab und landen in der Küche.

„Hier trinke ich gar nichts“, flüstert die Anni.

„Du musst ja nur so tun, als ob“, flüstere ich zurück.

Das dreckige Geschirr geht fast bis zur Decke. Auf dem Boden sind komische Flecken.

Die Guhse nimmt ächzend einen Stapel Zeitungen von einem Stuhl. Dann lächelt sie Anni an. Die Anni wirft mir ihren Ich-töte-dich-Blick zu und setzt sich ganz vorsichtig hin.

Ich räume mir selbst meinen Stuhl frei.

Auf dem Tisch brennt eine Kerze. Die Guhse stellt vier Unterteller und vier geblümte Tassen hin. Die sind noch ganz sauber, sie hat sie grad erst aus dem Schrank genommen.

Vier Kuchenteller hat sie auch.

Sie tippelt zum Gefrierschrank und holt etwas heraus. Aber es ist zu schwer für sie.

Krachend fällt der Kuchen auf den Tisch. „Sandkuchen“, erklärt die Guhse. „Muss erst was warm werden.“

Dann holt sie eine Thermoskanne. Ihre Hand zittert, und die Kanne zittert mit. Sie schenkt alle vier Tassen voll, und ein bisschen auch die Unterteller.

„Wir sind nur drei“, informiert die Anni sie.

„Aber nein“, sagt die Guhse. „Mein Mann liebt Kaffee.“

Ich rieche an meiner Tasse.

Da dampft nichts mehr. Der Kaffee ist wohl schon etwas älter. Aber weil ich noch nie welchen getrunken hab, nehme ich trotzdem einen Schluck.

Ich spucke ihn auf den Tisch.

„Uiuiui“, kichert die Guhse. „Ja. Der zieht dem stärksten Matrosen die Schuhe aus. Aber mein Mann liebt den so.“

„Wo ist denn Ihr Mann?“, fragt die Anni.

„Aber Kinder!“ Sie lacht. „So klein ist er nu auch nicht! Wollt ihr ihm nicht mal Hallo sagen?“

Die Anni und ich gucken uns kurz an. Dann drehe ich mich zu der vierten Teetasse.

„Hallo, Herr Guhse“, sage ich ganz nett.

„Tag, Herr Guhse“, sagt jetzt auch die Anni.

„Ich hänge sehr an ihm“, sagt die alte Guhse.

Wir nicken.

„Das sind zwei wirklich freundliche Mädchen“, erklärt sie der Teetasse. „Die haben schnelle Bretter!“

Sie lauscht kurz.

„Ja, Herrn Schmidt haben sie schon getroffen. Er heißt Tommie, sagen sie!“

Dann strahlt sie uns an.

„Also heißt er Tommie Schmidt, sagt mein Mann. – Und ihr sollt auf eure Knie aufpassen.“

Sie will den Kuchen schneiden, aber der ist immer noch komplett gefroren. Sie nimmt ihn mit beiden Händen und lässt ihn noch mal auf den Tisch fallen. Keine Chance.

„Und was macht ihr sonst gern?“, fragt sie.

„Wir spülen ganz gern“, sag ich und nehme mich vor Annis Blick in Acht. „Dürfen wir ein bisschen spülen, bevor wir gehen?“

Ich verhandle auch noch, dass wir beim nächsten Mal den Kuchen mitbringen. Das ist super. Dann können wir davon was essen.

„Was sollte das alles?“, fragt die Anni, als wir wieder raus sind.

„Ich wollte bloß wissen, was ein Haschmich ist“, erkläre ich.

„Und, hast du das herausgefunden?“

Ich zucke die Achseln. „Keine Ahnung. Vielleicht ein Mensch, an dem man ganz doll hängt.“

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