Anna Rotele: Holzwürmer

5. Platz Putlitzer Preis® 2024

Sie war immer noch hier.

Draußen lachte Maries helle Stimme ein letztes Mal, fielen die Autotüren zu, sprang der Motor an. Wie immer würde Norman einen Tick zu schnell rückwärts aus der Einfahrt setzen, wie immer würde Marie in den nächsten fünf Minuten das erste Mal fragen, ob sie etwas Süßes essen durfte – bestens informiert über den Inhalt der Tasche mit dem Proviant. Wie immer würde Lilith sich mit einem tiefen Seufzen in ihrer Box zusammenrollen und die Heimfahrt verschlafen.

Nur der Beifahrersitz war leer. Und sie, sie war immer noch hier.

Sie hatte ihnen gesagt, dass sie in Ruhe das kleine Ferienhaus winterfest machen wollte. Dass sie ein, zwei Tage brauchen und mit dem Zug nachkommen würde. Dass es ärgerlich sei, aber unumgänglich. Dass Norman und Marie ihre Ferien genießen sollten, dass es allein ihre Sache war. Und Norman hatte ihr in die Augen geschaut und wie immer mehr darin gesehen, als er sollte, und es war beschlossen gewesen.

Die beiden wären gern noch geblieben – sie liebten das Häuschen sehr. Aber sie musste alleine sein. Auch wenn sie nicht wusste, warum.

Nun stand sie in der Tür zum Wohnzimmer, den Staubsauger in der Hand, doch er wurde so schwer, dass sie ihn absetzen musste. Sie ging in die Hocke, schlang die Arme um die Knie und schaute in den plötzlich so stillen, alten Raum.

Winterfest machen. War sie denn selbst winterfest, nach den Schatten und schlechten Träumen der letzten Tage hier? Sie waren überall, sie kamen aus dem dunklen alten Holz gekrochen wie Käfer, wenn der Abend gekommen war. Sie flatterten umher, wollten sich verbinden, um eitergelbe Eier zu hinterlassen, und erst am Morgen schlüpften sie zurück in ihre Löcher bis zur nächsten Nacht.

Jetzt war sie noch weit entfernt, die nächste Nacht. Oder nicht? Das Licht, das durch die alten Fenster drang, war gedämpft und weich vom Staub auf dem Glas. Es warf einen zarten Kegel auf die Wand zum Schlafzimmer, die Wand mit den Fotos. Mutter. Vater. David. Sie. Vergilbte Gesichter, lächelnde Münder mit schwarzen Löchern darin. Und die Augen so leer, alle Augen so leer, das war ihr vorher nie aufgefallen, so oft schon hatte sie auf diese Galerie einer sogenannten Familie geschaut.

Darunter stand das grüne Sofa wie eine leere Bühne.

„Hat der Opa dich denn nicht lieb gehabt?“, hörte sie Maries Stimme wieder, es war wohl gestern gewesen, aber die Frage hatte keinen Zeitpunkt, sie stand jenseits der Tage im Raum. Marie, die immer alles wissen wollte, die immer merkte, wenn etwas merkwürdig war; der Opa, die Oma, der Onkel; warum ist der Opa gestorben, warum kommt die Oma nie zu Besuch, warum ist Onkel David so. Sie wollte ehrlich sein zu ihrem Kind, genau richtig, nicht zu ehrlich, aber auch nicht zu wenig, ihr Kind sollte nicht in einer Seifenblase aufwachsen, aber es sollte vertrauen und lieben, es sollte stark sein, aber es sollte niemals zu tief fallen müssen. Hat der Opa dich denn nicht lieb gehabt, sie hatte keine Antwort gehabt, und das sagte sie auch: nicht jetzt, aber wir sprechen aber wir sprechen noch einmal darüber. Sie hatte das ganz ruhig gesagt. Und dann war sie nach oben gegangen und hatte die Badezimmertür hinter sich geschlossen und sich übergeben, hatte der Opa sie lieb gehabt? Was für eine Frage.

Opas Liebe war nicht gut gewesen. Das konnte sie ihrem Kind nicht sagen, und das hatte sie selbst nicht gewusst. Aber plötzlich wusste sie, dass das die Antwort auf Maries Frage war, und auch diese Antwort stand jenseits der Tage hier im Raum. Es war keine Liebe gewesen, es war Macht gewesen, als Liebe getarnt. Und plötzlich waren die Käfer da, überall, die Käfer waren richtig, das Licht war falsch, sie zog die alten Läden zu, einen nach dem anderen, bis es kein Tageslicht mehr gab im Haus, nur die Wohnzimmerlampe flackerte noch.

Käfer und Larven und Eier, Eier und Larven und Käfer – Holzwürmer waren eine Pest, sie waren perfide, sie hörten niemals auf. Sie waren überall, sie zerlegten alles, Spuren von Holzmehl rieselten aus ihren Löchern. Man musste sie bekämpfen, und sie wusste, was da half. Das mussten auch Norman und Marie verstehen, das war alles marode, das konnte sie so nicht lassen – sie würde es wieder gut machen, ein Neuanfang, und sie ging in die Küche und drehte den Gasherd auf. Und dann nahm sie die Streichhölzer und setzte sich auf das alte grüne Sofa und wartete still auf ihren Moment.

Teilen: