Gewinnerin des Putlitzer Preis® 2017
„Fürchte die Danaer“, sagte mein Großvater auf dem Sterbebett, „auch wenn sie Geschenke bringen.“
Das klingt furchtbar pathetisch, nicht wahr, so etwas auf dem Sterbebett zu sagen? Nur, wissen Sie, meine Familie hatte für Pathos nichts übrig. Und um ehrlich zu sein, der Alte agierte schon seit Monaten wie eine kaputte Schallplatte, die wieder und wieder die gleichen Sätze repetiert. Aber auf der anderen Seite, dieser eine Satz, den ich vor vielen Jahren zum ersten Mal von Großvater hörte, als meine Eltern ihm seinen liebsten Whisky vorbeibrachten und ihn nach dem ersten Schluck davon zu überzeugen versuchten, endlich in ein Seniorenheim zu gehen, dieser Satz verfolgte mich – ohne dass ich überhaupt wusste, was er bedeutete.
Ein Danaergeschenk. Versuchen Sie mich erklären zu lassen, was man darunter versteht:
Dir bietet auf dem Schulhof irgendein Trottel plötzlich seinen Joint an. Und während du noch die Augen geschlossen hast und glücklich daran ziehst, steht schon der Lehrer neben dir und tippt dir auf die Schulter. Und der Typ, dem der Spliff eigentlich gehört, ist nirgends mehr zu sehen …
Oder: Dein bester Kumpel schenkt dir ein Smartphone zum Geburtstag und am nächsten Tag hält die Polizei dich an, weil du bei Rot über die Straße gehst. Und als sie dich checken, sagen sie dir, dass dieses scheiß Handy, das du stolz in der Hosentasche trägst, aus einem Raubzug stammt. Und während du auf dem Präsidium sitzt und deinen besten Kumpel zu decken versuchst, flirtet dieser Idiot irgendwo im Park mit deiner Freundin …
Oder der Wagen, den dein Vater dir zum Achtzehnten geschenkt hat. Erst freust du dich wie wahnsinnig, aber dann streiten deine Eltern ständig am Telefon, weil dein Alter schon seit vier Monaten keine Alimente mehr gezahlt hat und überhaupt findet deine Mutter, dass du erst mal das Abi schaffen solltest und nicht ständig in Schwierigkeiten geraten. Und dann machen sie sich gegenseitig dafür verantwortlich, was aus dir geworden ist und du denkst, dass Busfahren eigentlich gar nicht so schlecht war …
Ein Danaergeschenk zu erhalten, bedeutet, gefickt zu werden, ohne es zu merken. Und manche lernen es eben nie …
„Du würdest ein trojanisches Pferd nicht erkennen, wenn eine Armee mit scharfen Waffen auf dessen Sattel sitzen und auf dich zielen würde“, sagte mein Großvater, als er mich nach der Sache mit dem Handy vom Revier abholte. Der Oberkommissar spielte Skat mit ihm und mein Opa hatte noch irgendwas gut bei ihm. Von der Zelle aus hatte ich sofort seine Nummer gewählt. Meine Mutter verfiel immer in Hysterie, wenn sie Briefe von der Schule erhielt oder irgendwer anrief, um über mich zu sprechen. Und mein Vater hatte mir versprochen, dass wir in den Ferien zusammen nach Malle fliegen würden, wenn ich es schaffte, sechs Monate keinen Unsinn zu machen. Die beiden konnte ich also nicht anrufen. Der einzige andere Mensch, der mir einfiel, war mein Großvater. Er war nicht begeistert, vor allem weil er mich seit fast zwei Jahren nicht gesehen hatte. „Was meinst du, wie das ist, alt zu sein?“, fragte er mich, als er mich mit seinem rostigen Opel Corsa nach Hause fuhr. „Ich habe keine Ahnung“, sagte ich und es klang wahrscheinlich desinteressierter, als es gemeint war. Denn seien wir ehrlich, ich war ein Teenager, was konnte ich schon vom Altsein wissen? „Dann erkläre ich es dir!“, blaffte er mich an. „Ich muss mit meinem kaputten Rücken das Holz hacken, ich muss es die ganzen Stufen raufschaffen, obwohl ich Arthrose in den Knien habe. Ich muss die alte Bude in Schuss halten, ganz alleine, dabei habe ich einen Enkelsohn, der vor Kraft strotzt!“ Ich überlegte nicht, als ich den nächsten Satz aussprach: „Mama und Papa haben doch gesagt, du solltest besser ins Heim gehen.“ Er hielt mit quietschenden Reifen an und ließ mich aussteigen. „Sei froh“, sagte er, „dass Blut so dick ist.“ Dann fuhr er davon.
Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass dieser Satz die entscheidende Wende war, aber er gefiel mir. Mein Großvater hatte mich nicht aus der Kacke geholt, weil ich im Recht war oder weil ich irgendetwas Gutes oder zumindest nichts Schlechtes gemacht hatte, nicht einmal, weil er mich gemocht hätte, sondern nur weil das gleiche Blut durch meine wie durch seine Adern floss. Drei Tage später stand ich vor seiner Tür, hackte sein Holz, brachte es ihm ins Haus und fuhr wieder nach Hause. Ich kam im Abstand von zwei oder drei Tagen, selbst wenn kein Holz zu hacken und keine Bierkisten in den Keller zu schleppen waren. Manchmal blieb ich zum Fußballgucken und wir tranken Bier, rauchten und redeten über Männerthemen. Ich riss die alten Tapeten ab und klebte neue. Ich sah ihn niemals lächeln, aber ab und an schenkte er seinen besten Whisky ein.
Aber mit den Jahren wurde er eben einfach immer schusseliger und er vergaß, wann Fußball im Fernsehen lief oder wo er das Bier hingestellt hatte oder was ich eigentlich bei ihm zu suchen hatte.
Und so kriegten meine Eltern – mit fünfzehn Jahren Verzögerung wohlgemerkt – doch ihren Willen und er wurde in eins von diesen Altenheimen geschafft. Und ich besuchte ihn immer noch, wie aus Gewohnheit, obwohl es hier natürlich gar kein Holz mehr zu hacken gab und Bier sowieso nicht und einen Fernseher leider auch nicht. Ich machte das zwei Jahre mit, kam nach der Arbeit vorbei, setzte mich neben ihn und hörte ihm zu, wie er ab und zu einen bedeutenden Satz von sich gab und den dann im Abstand von einigen Minuten mehrmals wiederholte.
„Fürchte die Danaer“, murmelte er schwach und sah dabei so traurig aus wie niemals zuvor, „auch wenn sie Geschenke bringen.“
Welches Geschenk können Sie einem Menschen machen, der das Leben selbst als Danaergeschenk betrachtet?
Zögernd hob ich das Kissen auf, das neben dem Bett zu Boden gefallen war, und schloss die Tür. Der Mann im Bett neben meinem Großvater schnarchte.
Wir haben uns gegenseitig aus der Scheiße geholt.
Hätte ich seinen Mund dabei sehen können, ich glaube, er hätte gelächelt.