Karin Pelka: Für immer Julia

3. Platz beim Putlitzer Preis® 2017

Mit ruhiger Hand malte sie die Lippen in Altrosa nach. So, wie er es mochte. Seit damals verwendete sie dieselbe Marke, dieselbe Farbnummer, und es stand ihr noch immer ausgezeichnet, wie sie fand.
Das Altrosa ließ ihren Mund weniger faltig wirken. Noch ein Tupfer Rouge auf beide Wangenknochen, lilafarbener Lidschatten und der Spiegel zeigte das Bild des jungen Mädchens wieder. Die Vorfreude regte sich in ihrem Bauch. Ob sie einmal nach draußen schauen sollte? Vor dem Fenster glitt der Tag längst in die Nacht hinüber.
In den bordeauxfarbenen Bademantel gehüllt schlich sie zur Tür, öffnete sie einen Spalt, und – ja tatsächlich: auf dem Abstreifer lag das Präsent.
Besonders groß war es nicht, doch die exklusive Verpackung entlockte ihr einen glücklichen Seufzer. Sie wollte schon danach greifen, doch sie beherrschte sich. Noch nicht!
Im Schlafzimmer schob sie Kleiderbügel auf der Stange hin und her, zog dieses und jenes Kleid heraus und hängte es dann doch zurück. So viele schöne Kleider besaß sie, doch wenn er heute wirklich zurückkehrte, wie er es ihr so lange schon versprochen hatte, dann musste sie das allerschönste anziehen.
Endlich entschied sie sich für das geblümte Kleid mit dem Volant vor der Brust. In der Taille war es mit einem roten Lackgürtelchen zu binden, und das unterstrich ihre schlanke Figur ganz zauberhaft.
Sie mühte sich hinein, kam ins Schwitzen, als sie hinten den Reißverschluss nach oben zog. Nicht, weil es nicht passte, sondern weil ihre Arme mit den Jahren steif geworden waren.
Vor dem angelaufenen Spiegel an der Schranktür drehte sie sich, lächelte und knickste elegant. Sie würde ihm gefallen.
Nur noch ein wenig Haarspray, dann war sie perfekt vorbereitet, und dabei war es noch nicht ganz neun. Die lange, schützende Nacht lag vor ihr – und vor ihm. Eben erst setzten sich die Lerchen zur Ruhe, lang würde es dauern, bis der Morgen sie wieder in die Höhe lockte, ihr schändliches Lied zu singen. Willkommen, geliebte Nachtigall.
Die Spraydose hüllte sie in einen dichten, wohlriechenden Nebel.
Da klingelte es.
Sie flog zur Wohnungstür, lächelte, nein: Lachte, öffnete und flog auf den Treppenabsatz hinaus und in offene Arme.
„Abend, Greta“, sagte Mariann.
„Ach! Ich dachte – Entschuldigung“, sagte Greta.
Sie befreite sich aus Marianns Umarmung und zupfte den Volant zurecht.
Mariann nickte zum Abstreifer hinunter und kniff die Augen dabei zusammen. Sie trug den immer gleichen auberginefarbenen Hausanzug.
„Wollte dir nur sagen, dass dein geheimnisvoller Verehrer mal wieder ein Päckchen dagelassen hat“, sagte sie.
„Nein, was für eine Überraschung! Was mag es wohl sein?“
Greta hob das kleine Päckchen liebevoll auf, als rechnete sie damit, dass er sie beobachtete. Sie strich über das feste, teure Geschenkpapier, bewunderte die üppige Schleife.
„Tippe auf Seife“, sagte Mariann. Jetzt lachte sie auch noch.
„Nun sei nicht wieder neidisch. Geht dich ja nichts an, was drin ist.“
Greta zog das Päckchen schützend in die Armbeuge, koste es weiter, als hielte sie nicht sein Geschenk, sondern ihn, nur ihn, im Arm.
„Mach es schon auf“, sagte Mariann.
Greta zierte sich noch ein wenig, aber dann bat sie Mariann herein.
„Was stinkt denn hier so?“, fragte Mariann.
Greta rümpfte die Nase über so viel Unverschämtheit. Hinausschmeißen sollte sie Mariann. Aber das ging nicht. Stattdessen nahm sie die bereitliegende Schere und schnitt ganz vorsichtig das Band auf, wickelte auf dem Tisch das feste Papier ab, streifte es glatt und hob dann ein von Folie umhülltes Schächtelchen heraus.
„Wie wunderbar! Ausgerechnet!“, rief Greta.
„Sag nicht, das ist Chanel No 5?“
„Genau das! Woher er nur wusste, wie gerne ich es rieche?“
Greta vollführte ein Tänzchen, die Schachtel mit Chanel No 5 im bauschigen Stoff an die Brust gedrückt. Und wie das Kleid flatterte dabei. Wenn er sie nur sehen könnte, wenn er nur sehen könnte, wie glücklich sie seinetwegen war.
„Wie riecht das überhaupt?“, fragte Mariann.
„Du weißt nicht, wie das riecht? Dann hast du alles verpasst bisher“, lachte Greta, ohne auf den dunklen Blick Marianns zu achten.
Sie riss die Folie auf, holte den Flacon andächtig aus der Schachtel und sprühte sich einen ganz feinen Hauch aufs Handgelenk.
„Hier, riech selbst.“
„Hm. Das ist wirklich was Feines“, sagte Mariann.
Die gute Mariann, die keine Ahnung von der Welt hatte. Schon gar nicht von der Liebe – verheiratet, wie sie seit vierzig Jahren war.
Später, als Mariann wieder ihrem Mann beim Fernsehen Gesellschaft leisten musste, schwebte Greta in eine herrliche Wolke Chanel No 5 gehüllt und vom Blumenkleid umspielt hinunter zu den Briefkästen. Niemand sah sie dabei, trotzdem vollzog sie jede Bewegung konzentriert und mit Ausdruck. Im Spiegel der nachtschwarzen Fensterscheiben beobachtete sie sich selbst. Noch immer lief sie anmutig die Treppen hinab. So, wie es ihm seinerzeit gefallen hatte, als sie zusammen auf der Bühne standen, sie die Julia, er der Romeo. Und gleich, welche Rollen sie später spielten, im Herzen waren sie beide nie andere geworden. Sie auf dem Balkon, er sich verzehrend darunter.
Eines Tages bin ich für immer dein, hatte er im Dunkeln geflüstert.
Seufzend holte Greta die Post heraus und schwebte in die Wohnung zurück. Ungeöffnet steckte sie die Briefe von dem merkwürdigen Inkasso-Unternehmen in die Schublade. Dort lagen schon einige, aber noch passten sie hinein.
Den dicken Katalog, der gekommen war, packte sie gleich aus.
Aufrecht, die Beine grazil übereinandergeschlagen, saß sie auf der Sofakante und blätterte darin. Wo sollte sie anfangen? Geschmeide? Düfte? Teure Schokoladen in edlen Kästen?
Da fiel ihr der Armreif ins Auge. Das Gold üppig in die Breite getrieben, über und über mit funkelndem Smaragd, mit Rubin und Lapislazuli bedeckt, in einem unwiderstehlichen Muster angeordnet, würdig einer Königin. Ein schöneres Stück konnte er ihr kaum schenken.
Mit vor Freude zitternden Fingern füllte sie die Bestellkarte aus. Mariann würde Augen machen!
Oh Romeo, deine Julia erwartet dich.

 

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